Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Denkanstöße 2013

Denkanstöße 2013

Titel: Denkanstöße 2013 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nelte
Vom Netzwerk:
zusammenstoßen. Dort oben lasen sie, heimliche Mitglieder im Club der toten Dichter, die himmelstürmenden Oden Klopstocks und Hölderlins, deklamierten Schiller, Shakespeare und Goethe mit verteilten Rollen. Hesse trumpfte auf mit eigenen Versen, die, an Heines zärtlichem Spott geschult, ihre Wirkung nicht verfehlten. Er fühlt sich in dem kleinen Kreis der Literaturbegeisterten als der eigentlich Berufene, er allein strebt wie hundert Jahre vor ihm Hölderlin »nach Klopstockgröße« und dem »sonnenbenachbarten Flug der Großen«.
    Bereits in Calw und Göppingen hatten die Deutschlehrer einräumen müssen, dass sie an die Aufsätze dieses so anschaulich formulierenden Schülers selbst nicht heranreichen konnten, dass der immer ein wenig aufsässige Hermann Hesse etwas Genialisches hatte. Auch als Seminarist setzt er diese Tradition des besten Aufsatzschreibers fort, und beim Landexamen hatte er die Kühnheit, seine Arbeit in Hexametern abzufassen. Dass ihm dies von seinen Maulbronner Kameraden nicht nur Aufmerksamkeit, sondern auch Neid, bisweilen sogar Häme und Spott einträgt, ist nur natürlich. Im Streit braust Hermann oft auf, ist jähzornig bis zur körperlichen Aggression, um von einem Moment zum anderen einzulenken oder einfach wortlos wegzugehen. Dann ist sein Blick voller Verachtung, die jedoch plötzlich wieder in Selbstmitleid umschlagen kann. Der Dichterhochmut ist gepaart mit Verletzlichkeit und tiefer, leicht ins Depressive kippender Unsicherheit.
    Auch jetzt führt er ein Bändchen Schiller mit sich, dazu ein französisches Übungsbuch, da um 14 Uhr eigentlich die ungeliebte Sprachstunde beginnen soll, die er nun versäumen wird. In der Eile hat er ein einziges Brötchen in die dünne Leinenjacke gesteckt, aber als er bei strahlendem Sonnenschein über den Klosterberg und das freie Feld des Salzackers den Köbler erreicht, verspürt er keinen Hunger, dafür ist sein Gaumen wie ausgedörrt; jetzt vermisst er den Schoppen Bier, den die Seminaristen drei Mal die Woche trinken dürfen. Beim Eintritt in den Buchenwald erfasst ihn ein kalter Schauer, er bedauert, ohne Mantel und Handschuhe losgezogen zu sein. Die Schuhe sind längst durchnässt, die Hände klamm. In Wildschweinkuhlen leuchten vereiste Schneereste, herabgestürzte Äste und von Blitzeinschlägen ausgeglühte Baumruinen verstellen ihm den Weg.
    Da fällt ihm ein, dass er diese winterlich-düstere Szenerie ja längst vorweggenommen hat in einem Gedicht, das ihm jetzt zu beweisen scheint, wie sehr es seine Berufung ist, Dichter zu sein und damit über die Gabe zu verfügen, der harten Realität auf den Flügeln der Poesie zu entkommen:
    Ich bin in den Wald gegangen
    Und habe lange geweint,
    das Herz voll Weh und Verlangen,
    Und einsam und ohne Freund.
    Die Blätter haben gewimmert,
    Der Sturmwind hat laut getost,
    Ein einsamer Stern hat geschimmert –
    Und das war mein ganzer Trost.
    Ãœber die Straße nach Freudenstein gelangt Hesse wieder aufs freie Feld, an eine ausgedehnte, sanft ansteigende Lichtung, die auf den quer gelagerten Schulberg zuführt. Im Südwesten wird sie vom Höhenzug des Köbler zum Kloster hin abgeschlossen. Nun atmet er freiere Luft und marschiert wieder auf offenem Feld und in der hellen Sonne hoch zum Kamm des Scheuelbergs, rasch an einem einsamen Gehöft vorbei, um an der froschgrünen Mütze nicht als entlaufener Seminarist erkannt zu werden. Dann senkt sich der Waldweg wieder hinab ins Tal, Diefenbach lässt er rechts liegen und stolpert in der Dämmerung durch eine feuchte Tannenschonung, aus der gespenstisch das hohle Klopfen eines Spechts ertönt. Aus einem nahen Gehöft dringt bedrohliches Hundegebell – nur weiter, weiter.
    Natürlich weiß er, dass diese Flucht irgendwann enden, dass auch ein Taugenichts irgendwo ankommen muss, wenn sein romantischer Ausbruch einen höheren Sinn haben soll. Doch der Sinn steckt nicht im Ziel, sondern im Aufbruch, nicht im Durchbrechen der Ordnung, sondern im Erzwingen des Eigenen. Das Eigene liegt für Hermann Hesse begraben unter all dem Wissen, das er im Seminar anhäufen muss, auch wenn er anfänglich von der Ernsthaftigkeit der Lehrenden begeistert war, die den Klosterzöglingen 41 Wochenstunden Unterricht auferlegen. Zusätzlich zu den schulischen Übungen in Metrik und Versgeschichte hat Hermann sich selbst

Weitere Kostenlose Bücher