Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
überraschend ein Platz frei.
Louise von Günderrode greift zu und ist damit die Sorge um die Zukunft ihrer Tochter los, die nun vor allem mit alten Damen
zusammenwohnt.
Das Stift war 1753 gegründet worden und ist nur für mittellose adelige Witwen oder Fräulein bestimmt. Die Regeln sind sehr
streng. Besuche oder gar Feste sind nicht erlaubt. Die Frauen müssen dunkle Kleider tragen, feste Essenszeiten einhalten und
dürfen nicht ins Theater gehen. Man beschäftigt sich mit Hauswirtschaft, Gesellschaftstanz und Handarbeiten. Ein wenig Musizieren
oder ein paar kleine Dichtübungen sind auch gestattet, sofern sie das Maß des Schicklichen nicht übersteigen. Allerdings hat
man das Eintrittsalter herabgesetzt, sodass Günderrode bereits mit siebzehn Jahren ins Stift aufgenommen wird.
Für eine nachdenkende und gefühlsstarke junge Frau wie Günderrode bedeutet das Stiftsleben eine Art Gruft. Lebendig begraben
ist sie hier, ohne Möglichkeit zu offenem geistigen Austausch, ohne Hoffnung auf Liebe. Aber noch hat sie nicht resigniert.
Sie liest und notiert die Gedanken zu dem von ihr Gelesenen in einem eigensdafür angelegten
Denktagebuch,
ein Beweis dafür, wie stark ihre philosophische Neigung ausgeprägt ist. Günderrode liest beispielsweise Fichtes Werk
Die Bestimmung des Menschen
und macht sich Notizen. Sie schreibt sich wichtige Stellen heraus und kommentiert sie. Eines dieser Zitate lautet: »Die ... nothwendigen Bestimmungen, welche uns durch ihren Zusammenhang ein Weltsystem bilden, lassen sich also auch durch die
nothwendigen Gesetze unseres Denkens erklären.« Dazu Günderrodes Kommentar: »D. h.: Die Gesetze, die wir in ihnen wahrzunehmen
glauben, liegen in unsrem eignen Denken.« 4
Günderrode erkennt, welch entscheidende Bedeutung Fichte dem menschlichen Denken zumisst. Was in der Welt draußen an Gesetzmäßigkeiten
herrscht, herrscht zuerst einmal in unserem Geist. Dadurch muss bei Günderrode das Gefühl entstehen, dass es etwas gibt, das
durch die Muffigkeit des Stiftslebens, durch das ständige Reglementiertwerden keinen Schaden erleiden kann: die freie Welt
des Denkens. Fichte selbst erlebt die Spannung zwischen einem freien Denken und Reden und dem Versuch des Staates, genau dies
zu unterbinden, am eigenen Leib. Er verliert seine Professur in Jena, weil er seine Meinung allzu frei äußert.
Philosophieren als Form der Selbstverwirklichung ist schwierig in einer Gesellschaft, die sich vor allem durch Strenge und
Unbeweglichkeit auszeichnet. Der Dichter Friedrich Hölderlin nennt diese seine eigene Zeit eine »bleierne Zeit«. Ihm hätte
Günderrode begegnen können, denn er ist von 1796 bis 1798 Hauslehrer bei der Familie Gontard, deren Anwesen an den Garten der Stiftswohnung Günderrodes grenzt.
Günderrode steht mit ihren Ideen also keineswegs allein da. Die Bleischwere der Zeit wird ihr als denkender Frau in einer
männerdominierten Gesellschaft noch bewusster. Die weithin herrschende Meinung von einer grundsätzlichen Unterschiedenheit
zwischen dem Männlichen und Weiblichen mag ihr so gar nicht einleuchten. Ihr liegt vor allem daran, nicht sosehr auf die eigene
Individualität zu achten, sondern die ganze Menschheit im Auge zu haben. Die Unterscheidung zwischen männlich und weiblich
sollte aufgehoben werden in dem Begriff der Menschheit als einer höheren Einheit.
Es mag den Anschein haben, als vergäße Günderrode über all den tiefen Gedanken zu leben. Gibt es überhaupt jemanden, mit dem
sie über ihre Ideen sprechen kann? Über Kontakte zu den anderen Stiftsdamen weiß man wenig. Im Stift selbst scheint Günderrode
recht einsam zu sein. Den Kontakt nach draußen hält sie durch Briefe. Außerdem unternimmt sie ausgedehnte Reisen, um dem Stiftsalltag
wenigstens zeitweise zu entkommen. Gern besucht sie die Freundin Karoline von Barkhaus in Lengfeld, deren Familie ein geselliges
Leben auf ihrem Gut führt, auf dem Günderrode schon viele schöne Feste erlebt hat.
Die Briefe Günderrodes an die vertraute Freundin sind ein beredtes Zeugnis für ihr schmerzliches Empfinden einer Art Gefangenschaft
im Stift. Am 18. Juni 1799 schreibt sie: »Da sitze ich wieder in meiner einsamen Zelle, und die vergangnen Tage scheinen mir ein Traum, der
ein dumpfes schmerzliches Gefühl des verflossenen Angenehmen und des augenblicklich schmerzlichen Entbehrens zurücklässt.« 5 Das Haus und die Freundschaft von Karoline von Barkhaus bringen
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