Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
zurück.Symptomatisch für Günderrode ist, dass sie dennoch weitermacht mit dem Briefeschreiben an Gunda. Dabei spricht sie von Dingen,
erläutert Gedanken, die bei Gunda Missverständnisse hervorrufen müssen, was der Briefschreiberin im Grunde klar ist. So kann
man in einem Brief vom August 1801 lesen: »Schon oft hatte ich den unweiblichen Wunsch, mich in ein wildes Schlachtgetümmel
zu werfen, zu sterben. Warum ward ich kein Mann! Ich habe keinen Sinn für weibliche Tugenden, für Weiberglückseligkeit. Nur
das Wilde, Große, Glänzende gefällt mir. Es ist ein unseliges, aber unverbesserliches Missverhältnis in meiner Seele; und
es wird und muss so bleiben, denn ich bin ein Weib und habe Begierden wie ein Mann, ohne Männerkraft. Darum bin ich so wechselnd
und so uneins mit mir.« 12
Zum Teil rühren Günderrodes hochfliegende Wünsche auch von der aktuellen Lebenssituation her: Ihre Lieblingsschwester Charlotte
ist todkrank. Am Bett der Kranken, die fast nicht mehr ansprechbar ist, verbringt Günderrode viele Stunden, und ihr bleibt
nichts anderes zu tun, als dabei ihren Gedanken nachzuhängen. Die ständige Konfrontation mit Krankheit und Tod macht sie mürbe.
Hinzu kommt, dass sich die Beziehung zur Mutter zusehends verschlechtert. Louise verschleudert das Erbe ihrer Kinder und so
erscheint Günderrodes Wunsch, irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft das Stift verlassen zu können, illusorischer denn je.
Das Leben muss ihr wie eine Wüste vorkommen. Sie lebt weiterhin doppelt: Einerseits wendet sie sich ihrer Familie zu und übernimmt
damit typisch »weibliche« Aufgaben, andererseits ist sie Idealistin und sucht Befriedigung im Denken, im Entwerfen neuer,
ganz anderer Lebensmöglichkeiten. Doch Günderrodehat nicht die äußere Ruhe wie ein Kant oder ein Hegel, sie hat keine Brotbeschäftigung, die ihr ermöglicht, finanziell unabhängig
zu sein. Sie kann ihre hohe intellektuelle Begabung nicht frei ausleben. Immer wieder muss sie ihre überschießende Energie
im Zaum halten, sich bescheiden.
Die Beziehung zur Familie Brentano beschränkt sich nicht auf Gunda. Im Juli 1801 lernt Günderrode ihren Bruder Clemens, das
Enfant terrible der Familie, kennen. Er verliebt sich in sie, nachdem sich seine große Liebe, die acht Jahre ältere, verheiratete
Sophie Mereau, von ihm losgesagt hat. Clemens singt gern in Kneipen zur Gitarre seine selbst komponierten Lieder. Die Wirkung
seines Äußeren auf andere Menschen ist unwiderstehlich: Er hat etwas Südländisches im Ausdruck, ist klein, knabenhaft und
hat wunderschöne Augen. Wenn er seine Lieder singt, fallen ihm die schwarzen Locken in die Stirn, er ist in ständiger Bewegung
und reißt seine Zuhörer mit. Man sieht ihm nicht an, dass er einer ehrbaren Kaufmannsfamilie entstammt. Weit eher würde man
seine Vorfahren unter Gauklern vermuten. Aber trotz dieses abenteuerlichen Auftretens bleibt Clemens ein wahrhafter Spross
seiner Familie, denn sie ermöglicht ihm ein von Geldsorgen freies Leben und bietet Schutz immer dann, wenn es draußen in der
Welt zu stürmisch wird. So fällt es leicht, den Vagabunden zu spielen.
Dieser feurige Dichter Clemens Brentano verliebt sich also in Günderrode und bemüht sich, in sprachlich ausgefeilten, leidenschaftlichen
Briefen den Beweis dafür zu erbringen.
Brentano ist wie Günderrode im Inneren zerrissen, unstet,suchend. Seine Sinne müssen restlos berauscht sein, als er ihr im April 1802 schreibt: »Gute Nacht! Du lieber Engel! Ach,
bist Du es, bist Du es nicht, so öffne alle Adern Deines weißen Leibes, dass das heiße, schäumende Blut aus tausend wonnigen
Springbrunnen spritze ...« 13 Günderrode fühlt sich nicht unbedingt geschmeichelt, wenn man sie einen »lieben Engel« nennt. So antwortet sie denn auch
eher trocken und Abstand haltend: »Es war mir ganz wunderlich zumute, als ich Ihren Brief gelesen hatte; doch war ich mehr
denkend als empfindend dabei; denn es war mir und ist mir noch so, als ob dieser Brief gar nicht für mich geschrieben sei.« 14
Hellsichtig erkennt Günderrode, dass Clemens verliebt ist in die eigene Verliebtheit, dass er dieses Gefühl mehr liebt als
die Person, die er scheinbar anspricht. Clemens braucht den Liebesrausch, weil er dadurch ein gesteigertes Gefühl seiner selbst
hat. Die Frau, mit der er glaubt, verbunden zu sein, ist dabei relativ unwichtig. Er hätte diesen Brief in der Tat auch an
jemand anders
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