Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
alle Widersprüche auflösen. Bettine ist die erste Person, mit der sie über diese Gedanken sprechen kann, und die ist
froh darüber, eine Freundin gewonnen zu haben, die ihr bezüglich Philosophie etwas beibringt. Sie treffen sich häufig und
schreiben einander lange Briefe. In ihren geistigen Bestrebungen stehen sie den Tendenzen ihrer Zeit, in der eine engstirnige
Kleinbürgermoral vorherrscht, entgegen. Fleiß, Sparsamkeit, Disziplin und Untertanengesinnung gelten als vorzügliche Charaktereigenschaften.
Da ist es ein Wagnis, die Freiheit des Individuums zu fordern. Angepasstheit und Kreativität, rückschrittliches und revolutionäres
Denken, Ordnung und Freiheitsdrang prallen aufeinander.
Wenn man von der Freundschaft mit Bettine absieht, befindet sich Günderrode in einer isolierten Position. Savigny hat geheiratet,
seine Frau Gunda Brentano ist Günderrode fremder denn je, und die Beziehung zu Clemens bleibt schwierig. Auch die Freundin
Lisette hat nun geheiratet und muss sich mit der Mutterschaft und mit der Bewirtschaftung eines Gutes beschäftigen. Als Günderrode
an eine erste Veröffentlichung denkt, führt der Mann von Lisette die Verlagsverhandlungen für sie. Allein wäre es ihr als
Frau nicht möglich, ein solches Vorhaben in die Tat umzusetzen. So kann denn im April 1804 ihre erste Publikation, die
Gedichte und Phantasien,
erscheinen. Allerdings veröffentlicht sie nicht unter ihrem Namen, sondern unter dem männlichen Pseudonym »Tian«, um zu verhindern,
sogleich die Vorurteile ihrer Leserschaft herauszufordern. Viele ahnen jedoch, wer sich hinter diesem Namen verbirgt,und Günderrode muss sich der Kritik stellen. So schreibt ein Rezensent: »Die Anmuth und Reinheit der Sprache, manche sehr
gelungene Stelle, manche schöne edle Gefühle und Ideen – (obgleich selten und nie originelle; mancher hat Reminiscenzen und
hält sie für Originalideen!) lockten freundlich zum Weiterlesen und erweckten Hoffnungen, welche wieder schwankend gemacht
wurden, wenn hier und da die Verfasserin ihrem eigenen schönen Gemüthe ungetreu wurde und ihre Ideen hinaufschraubte, oder
ihre Sprache verkünstelte; kurz, wenn sie sich beschwerlich in den schimpflichen Fesseln der neuesten Schule bewegte.« 17
Böses Günderrödchen! Günderrode versucht in diesen Gedichten, kleinen Erzählungen und Prosafragmenten, Gefühle und Gedanken
zu verbinden. Ihre Grundfrage ist die nach der Beziehung zwischen Vergänglichkeit und Bleibendem. Sie versucht jedoch nicht,
das Thema logischsystematisch zu erörtern, ein Denkgebäude zu erstellen, das in sich schlüssig und abgeschlossen ist. Sie
fragt immer wieder neu. Ob sie nun eine phantastische Geschichte ersinnt, ein Gedicht schreibt oder ihre Gedanken in kurze,
prägnante Sätze fasst, spielt keine Rolle. Ihr Formenreichtum ist faszinierend, und die Leser haben die Möglichkeit, mit ihr
zusammen zu experimentieren. So enthält die Sammlung zum Beispiel ein Gespräch zwischen Lehrer und Schüler, in dem es um die
Beziehung zu den Toten geht:
Lehrer:
»Die positive Gegenwart ist der kleinste und flüchtigste Punkt; indem du die Gegenwart gewahr wirst, ist sie schon vorüber,
das Bewusstsein des Genusses liegt immer in der Erinnerung. Das Vergangene kann in diesem Sinn nur betrachtet werden, ob es
nun längst oder so eben vergangen, gleichviel.«
Schüler:
»Es ist wahr. So lebt und wirkt aber ein großer Mensch nicht nach seiner Weise in mir fort, sondern nach meiner, nach der
Art, wie ich ihn aufnehme, wie ich mich und ob ich mich seiner erinnern will.« 18
Günderrode beschäftigt sich in diesem Dialog mit der Zeit, einem zentralen Problem der Philosophie. Schon Aristoteles philosophierte
über die Zeit, und durch die gesamte Philosophiegeschichte finden wir diese Auseinandersetzung. Dass man die Zeit nicht fassen
kann und doch nichts ohne sie geschieht. Dass es objektiv messbare Zeit gibt und subjektiv erlebte Zeit. Augustinus hat bereits
erkannt, dass die Zeit ihren Ort im Bewusstsein hat, und für Kant war klar: Die Zeit ist wie der Raum die Bedingung der Möglichkeit
jeden Erkennens und Erlebens.
Es befremdet die Zeitgenossen Günderrodes, dass eine Frau ihr Interesse solch komplizierten denkerischen Operationen zuwendet.
Eine Frau sollte sich dem Schönen hingeben, ihre Seele sollte ausgewogen, klar und einfach sein. Über Zeit und Ewigkeit nachzudenken,
das ist ein Geschäft für Männer. So sind die
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