Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
richten können. Günderrode beweist Instinkt und lässt sich nicht in den Taumel mit hineinreißen. Solch ein Brief
erregt weit mehr ihr Denken, als ihr Gefühl. Gewiss kennt sie selbst solch rauschhafte Momente aus eigener Erfahrung und weiß,
dass sie sich mit Zeiten leerer Trostlosigkeit abwechseln. Ihr kommt es jedoch darauf an, im Leben, in der Beziehung zu anderen
Menschen und im Denken über den erfüllten Augenblick hinauszukommen. Sie will mehr als kurze, rauschhafte Glücksmomente. Hier
wird deutlich, dass sie viel mehr Denkerin ist als Clemens. Dem überschwänglichen Dichter antwortet die vorsichtige Philosophin,
und sie tut es mit Worten, die ihn zum Nachdenken über sich selbst bringen könnten.
Brentano aber phantasiert sich in eine erotische Harmonie mit Günderrode hinein, wehrt ihre Überlegungen als allzu abstrakt
ab. Er nennt sie »Günderrödchen« oder »mein Kind«. Das ideologische Familienerbe der Brentanos und die Vorurteile seiner Zeit
verbieten es ihm, einer Frau Selbstständigkeit und geistige Größe zuzugestehen. Seine geliebte Sophie wird er doch noch bekommen.
Sie wird sich von ihrem Mann scheiden lassen und ihm zwei Kinder gebären. Bereits 1806 allerdings wird sie an der Geburt des
dritten Kindes sterben. Ohne Frau wird Clemens nie sein, denn für ihn bringt neue Liebe neues Dichten und umgekehrt.
Günderrode hingegen erfährt im Frühjahr 1802 wieder einmal anstelle der Macht der Liebe die Macht des Todes: Auch die dritte
Schwester Amalia stirbt an der Schwindsucht. Einfach nur zu leben, ohne etwas zu erarbeiten, was über alles Irdische hinausgeht,
das kann Günderrode nicht befriedigen. Die große Herrscherin über das Leben ist die Zeit, die Vergänglichkeit. Günderrode
aber will etwas Bleibendes schaffen, ein geistiges Erbe hinterlassen, und das in einer Lebensphase, wo ihr alles andere zu
misslingen scheint. Nicht nur scheitern ihre Bemühungen in der Liebe, auch mit ihren Finanzen steht es sehr schlecht. Sie
und ihre Schwester Wilhelmine gehen vor Gericht, um gegen die Mutter zu klagen. Es besteht jedoch wenig Hoffnung auf Erfolg.
All diese Umstände und Schicksalsschläge belasten Günderrode schwer. Trotzdem versucht sie, das gesellschaftliche Spiel mitzuspielen,
geistreich zu sein, wo man es fordert, und die Koketterie zu pflegen. Aber mehr als ein Spiel wird es für sie nie sein können.
Auch andere kreative Geister der Zeit spielen es, ohne sich damit zu identifizieren.
Clemens Brentanos Schwester Bettine schlägt ebenfalls in diese Richtung: tiefsinnig, eigenwillig, unkonventionell. Günderrode
ist der um fünf Jahre jüngeren, sehr phantasievollen Frau wohl 1801 zum ersten Mal begegnet. Zwischen den beiden entwickelt
sich eine spannende Freundschaft. Kurz nach dem ersten Kennenlernen schreibt Günderrode an Gunda: »Küsse Bettina von mir,
ich wollte es lieber selbst tun, als Dir auftragen.« 15
Bettine ist voll quirliger Lebenslust und gefühlstiefer Unmittelbarkeit, und gerade damit tut sie der Freundin gut. Neidlos
erkennt sie Günderrodes geistige Leistungen an. Die hat neben dem Studienbuch mit den philosophischen und literarischen Zitaten
bereits 1798 begonnen, Erzählungen und Gedichte zu schreiben. Bettine bestärkt sie darin, weiterzumachen. Auf langen Spaziergängen
gründen sie einen »Seelenbund«. Sie sind sich darin einig, die unterdrückerischen Normen ihrer Umgebung zu bekämpfen.
Bettine Brentano entzieht sich wie Karoline von Günderrode den Erziehungsversuchen der Freunde und Verwandten. Ihr Ziel ist
die Entwicklung der freien Individualität, unter anderem auch durch die Möglichkeit, mit einer anderen Person in ein intensives
Gespräch einzutreten. »Du bist der Widerhall nur, durch den mein irdisch Leben den Geist vernimmt, der in mir lebt, sonst
hätt’ ich’s nicht, sonst wüsst’ ich’s nicht, wenn ich’s vor dir nicht ausspräch’.« 16 Die Stimme der einen hallt im Geist der anderen wider, das ist Philosophie im Dialog, echter Gedankenaustausch. Beide wollen
sich vor dem »Mottenfraß der Häuslichkeit«, so Bettine, bewahren, sich nicht mit den Aktivitäten der Philister abgeben. Die
Persönlichkeit entwickeln, sich denkerisch vervollkommnen, dem Ewigen zustreben, so stellen sie sich ihr Leben vor.
In ihrer Erzählung
Geschichte eines Braminen
hat Günderrode sich bereits 1798 damit auseinandergesetzt, wie der Mensch zu einem Ganzheitserleben kommen könnte, in dem
sich
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