Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
niedergeschlagen.
Am 28. Februar 1918 »kündigt« Stein bei Husserl. Er akzeptiert, ihm bleibt nichts anderes übrig. Was Stein in der Arbeit bei Husserl
vermisste, lässt sich mit ihren eigenen Worten am besten ausdrücken: »Wo eine Person der anderen als
Subjekt
dem
Objekt
gegenübertritt, sie erforscht und auf Grund der gewonnenen Erkenntnis planmäßig ›behandelt‹ und ihr beabsichtigte Wirkungen
entlockt, da leben sie in
Gesellschaft
zusammen. Wo dagegen ein Subjekt das andere
als Subjekt
hinnimmt und ihm nicht gegenübersteht, sondern
mit ihr lebt
und von seinen Lebensregungen bestimmt wird, da bilden sie miteinander eine
Gemeinschaft.
« 10 Edith Stein hätte gern mit dem Lehrer in einer Gemeinschaft gearbeitet, in der jeder ernst genommen wird. Sie fühlt sich
von Husserl wie ein Objekt behandelt, mit dem man rechnen kann und über das man bestimmt.
Inzwischen bricht in Deutschland die alte Ordnung zusammen. Der Krieg ist verloren, Kaiser Wilhelm II. ins Exil nach Holland
gegangen. Stein leidet darunter wie alle anderen. Sie hat immer starken Anteil genommen am Schicksal ihres Landes. Wenn ihr
auch der Wirbel um den Kaiser übertrieben schien, so war sie doch eine Patriotin gewesen. Dem Neuen, das im Entstehen begriffen
ist, steht sie gleichwohl positiv gegenüber. In ihrem Innern herrscht eine Mischung aus Trauer und Zuversicht. Erneut stürzt
sie sich in die Arbeit und schreibt ein Werk mit dem Titel
Beiträge zur philosophischen Begründung der Psychologie und der Geisteswissenschaften.
Mit ihrer Dissertation zum Thema Einfühlung hat sie ja bereits ihr Interesse an psychologischen Themen bekundet. Begründen
lässt sich das aus Edith Steins Sicht damit, dass in der Psychologie von Spekulationen abgesehen und das tatsächlich Erkennbare
in den Blick genommen werden muss. Auch hier heißt ihrer Meinung nach die Devise: »Zu den Sachen selbst.«
Edith Stein richtet nun den philosophischen Blick auf den
Bewusstseinsstrom,
also das, was unser bewusstes Leben ausmacht und beeinflusst. Wir werden durch Wahrnehmungen bewegt und reagieren auf eine
bestimmte Weise. Beispielsweise empfindet jemand an einem Frühlingstag Licht und Wärme als sehr angenehm, was allerdings auch
zusammenhängt mit der individuellen und momentanen Verfassung dieser Person. Einem Menschen, der deprimiert ist, kann ein
Frühlingstag sogar auf die Nerven gehen, ihm wäre es lieber, es wäre kalt und regnerisch. Stein nennt dies »Lebensgefühl«.
Es herrscht eine gewisse Kausalität in diesem Bereich: Die äußeren Eindrücke beeinflussen das Erleben, aber andererseits beeinflusst
auch die Art des Erlebens die Aufnahme äußerer Eindrücke. Eine gegenseitigeAbhängigkeit ist zu beobachten. Stein geht es aber darum, zu schauen, wo das unabhängige geistige Leben anfängt. Sie stellt
die Frage nach der Freiheit des Menschen. Einen Anfang dafür sieht sie in dem, was sie
Motivation
nennt. Die Psyche wird durch etwas, das sie als wertvoll erkannt hat, motiviert, und diese Motivation mündet schließlich in
eine Handlung. Absolute Freiheit herrscht jedoch auch hier noch nicht. Häufig sind auf diesem Gebiet die verschiedensten Voreingenommenheiten
zu finden, die die Motivation zu einer Handlung färben. Ein Stück weiter in Richtung Freiheit reicht für Stein der »Vorsatz«,
weil in diesem Fall ein Mehr an Willenskraft im Spiel ist. Vorsätzlich handelt nur derjenige, der die Handlung aus starker
Überzeugung heraus will.
Edith Stein geht in ihren Überlegungen vom »Normalmenschen« aus. Wie sieht sein bewusstes Leben aus, wovon wird es angetrieben,
wie kommt es überhaupt zu Handlungen? Der Horizont, vor dem sie fragt, ist allerdings ein anderer. Was sie letztlich und auf
dem Umweg über diese eher handlungstheoretischen Fragen philosophisch interessiert und antreibt, ist der Wunsch, etwas herauszufinden
über die Möglichkeit des Menschen, im absoluten Sinn frei zu sein. Mit der Untersuchung dieser Frage steht sie aber denkerisch
noch ganz am Anfang.
Stein hat den Gedanken an eine Habilitation noch nicht aufgegeben. Dabei denkt sie noch immer an Husserl, der ja eigentlich
als liberal eingestellter Mann gilt und den Frauen gewisse Rechte einräumt. Er schreibt für Stein zwar ein glänzendes Gutachten,
dessen letzte Zeilen einen aber vorsichtig aufhorchen lassen: »Sollte die akademische Laufbahn für Damen eröffnet werden,
so könnte ich sie an allererster Stelle und aufs
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