Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
Wärmste für die Zulassung zurHabilitation empfehlen.« 11 Der Herr Professor kann also nicht über seinen Schatten springen. So mutig er im Denken ist – die gesellschaftliche Ordnung
will er auf keinen Fall umstoßen, und was nicht üblich ist, lässt sich nicht erzwingen. Stein versucht ihr Glück in Göttingen,
Kiel und Hamburg: vergebens. Man hat etwas gegen Frauen im akademischen Betrieb und manchmal auch etwas speziell gegen Husserl-SchülerInnen.
Edith Stein arbeitet weiter. Das Thema Gesellschaft und Gemeinschaft, mit dem sie sich seit der Dissertation beschäftigt,
liegt ihr nun verständlicherweise verstärkt am Herzen. Hat sie doch gerade schmerzlich erfahren, wie die Gesellschaft mit
Akademikerinnen umgeht. Sie hat Sehnsucht nach einer Gemeinschaft, in der ein Mensch den anderen wahrnimmt und anerkennt,
unabhängig von Geschlecht, Herkunft, denkerischer Ausrichtung und anderen Faktoren.
Stein arbeitet meistens zu Hause in Breslau. Daneben bietet sie in einem privaten Rahmen Kurse in Phänomenologie an, zu denen
sich bis zu fünfzig Personen versammeln. Über die nun endlich zustande gekommene Ehe zwischen Schwester Erna und Hans Biberstein
kann sie sich freuen, denn am Leben Ernas hat sie immer aufrichtigen Anteil genommen. Sie selbst befindet sich gerade wieder
in einer neuen Liebesgeschichte. Hans Lipps heißt der Auserwählte, ein Schüler Husserls, der mit dem Meister gerade einen
Konflikt auszutragen hat. Stein stellt sich auf Lipps’ Seite, der angetan zu sein scheint von der angehenden Philosophin,
mehr aber offensichtlich nicht.
Stein ist uneins mit sich. Wohin soll sie sich wenden? Wie könnte ihre Zukunft aussehen? Wo wäre eine Gemeinschaftin ihrem Sinn zu verwirklichen? Der Bereich eines reinen, freien Geistes beschäftigt sie, doch wie ihm nahekommen? Es erscheint
fast folgerichtig, dass Stein zu diesem Zeitpunkt beginnt, sich mit dem Christentum auseinanderzusetzen. Sie liest ein Buch
des Gründers des Jesuitenordens, Ignatius von Loyola, der in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts lebte und geistige Übungen für die Christen niedergeschrieben hat. Diese Übungen umfassen dreißig Tage, in denen
der Christ sein Gewissen erforschen soll, sich die Hölle vorzustellen hat, aber auch die Gnade Gottes. Der Gnade wird er gewahr,
indem er sich in den Lebensweg von Jesus »einfühlt«. Damit wäre eine unmittelbare Nähe zu einem der Grundthemen Edith Steins
hergestellt. Durch
Einfühlung
also kann sich nach der Vorstellung Ignatius’ von Loyola der Mensch Jesus nähern. Dieser Gedanke muss Stein imponieren und
ihr Auftrieb geben. Sie hat sich nicht zu entfernen von ihrem bisherigen Denkweg, wenn sie einen Bezug zum Christentum herstellen
möchte. Es bedarf keiner philosophischen Kehrtwendung, um mit Jesus in Kontakt zu kommen.
Bereits im Sommer 1920 hat Stein eine wichtige Bekanntschaft geschlossen, die sich immer mehr zu einer engen Freundschaft
entwickelt: Sie hat die Phänomenologin Hedwig Conrad-Martius kennengelernt. Den Sommer 1921 verbringt sie in Bergzabern im
Haus von Hedwig und deren Mann Theodor. Trotz der Krise, in der sie sich befindet, fühlt sich Edith Stein bei den beiden wohl
und hilft ihnen, ihr Obstgut zu bewirtschaften. In dieser Zeit und im Haus der Freundin fällt ihr wahrscheinlich die Autobiografie
der Teresa von Ávila in die Hände. Teresa wurde 1515 geboren und gründete den Orden der »UnbeschuhtenKarmeliterinnen«. Ihr Leben lang strebte sie nach christlicher Vollkommenheit. Gleichzeitig war sie eine wache Beobachterin
der Politik und eine unerbittliche Kritikerin des damaligen spanischen Königs Philipps II. Bei dieser Frau findet Edith Stein etwas von dem, was sie selbst sucht: Absolutheit im Denken und im Handeln.
Die Radikalität Teresas von Ávila spricht Edith Stein aus der Seele, und ihr wird nun klar, dass sie den christlichen Glauben
annehmen, aber nicht wie Hedwig Conrad-Martius Protestantin, sondern Katholikin werden will. Vieles kommt in diesem entscheidenden
Moment ihres Lebens zusammen: Die Möglichkeit der Habilitation scheint ein für alle Mal ausgeschlossen, Hans Lipps hat sich
ganz von ihr gelöst, das Christentum übt eine wachsende Faszination auf die Denkerin aus. Für Edith Stein selbst bedeutet
das Nachdenken über die Freiheit der Person nun mehr als all die anderen Themen, mit denen sie sich bisher beschäftigt hat.
Warum jemand in einer bestimmten Situation so und
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