Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
wie ihn seine
Schüler nennen, ist sehr unsystematisch. Erschreibt seine Gedanken vielfach auf Zettel und dazu noch in der sogenannten Gabelsbergerschen Kurzschrift. Zum Ordnen kommt
er dann praktisch nicht mehr, deshalb soll das jemand anders für ihn übernehmen. Auf einem Spaziergang mit Husserl macht Stein
ihm das Angebot, sich dieser Aufgabe zu stellen. Husserl ist glücklich wie ein Kind und führt mit seiner »Assistentin« mitten
auf der Straße eine Art Freudentanz auf. Allerdings besteht Klarheit darüber, dass sie für ihre Arbeit nicht viel Geld bekommen
wird.
Im August 1916 legt Stein das Rigorosum, die mündliche Doktorprüfung, ab und erhält die Gesamtnote »summa cum laude«, die
beste Beurteilung, die man bekommen kann und die normalerweise den Freibrief zur Habilitation und damit zur Professorenlaufbahn
bedeutet – wenn man als Mann zur Welt kam.
Bevor sich Edith Stein Gedanken macht über ihre weitere akademische Laufbahn, feiert sie erst einmal ihren Erfolg und genießt
es, einen Kranz aus Efeu und Margeriten aufgesetzt zu bekommen. Husserl, der abends in seinem Haus ein Essen gibt, freut sich
mit seiner Schülerin.
Im Oktober 1916 zieht Stein nach Freiburg, um ihre Tätigkeit bei Husserl aufzunehmen. Die Aufgabe gestaltet sich nicht gerade
einfach: Stein muss die manchmal reichlich zusammenhanglosen Textfragmente des Philosophen in die richtige Ordnung bringen
und leistet eine enorme Denkarbeit, die der »Meister« in keiner Weise honoriert. Er sieht sich die Ausarbeitung seiner Assistentin
nicht einmal an, sondern sitzt bereits über der Ausarbeitung neuer Gedankengänge. Stein selbst sieht ihre Arbeit keineswegs
nur als Dienst am Meister. Sie ist überzeugt davon, dass sie die Gedankensplitter so zusammenfügt, dass ein fürdie Leser verständlicher Text entsteht. Ihr Selbstvertrauen, was ihre philosophische Begabung betrifft, ist groß.
Stein »darf« über ihre Entzifferungstätigkeit hinaus einen phänomenologischen Anfängerkurs abhalten. Was ihr allerdings verwehrt
bleibt, ist die Möglichkeit einer Habilitation. In diesem Punkt endet Husserls Einsatz für die akademische Laufbahn seiner
begabten Studentin, denn er ist wie die meisten seiner Kollegen der Meinung, eine Habilitation »schicke« sich nicht für Frauen.
Das Verhältnis zwischen ihm und Edith Stein wird dadurch zunehmend angespannt.
Zum Glück gibt es jemanden, dem Stein sich vorbehaltlos anvertrauen kann: Roman Ingarden, der zwei Jahre jünger ist als Stein,
aus Krakau kommt und wie seine Kommilitonin Professor Husserl nach Freiburg gefolgt ist. Eine sehr herzliche, warme Beziehung
entsteht. Ingarden liest Steins Dissertation und schreibt eine ausführliche Kritik. Stein antwortet schriftlich, trotz der
räumlichen Nähe: »Dass ich es lernen muss, in die Tiefe zu gehen, ist mir auch längst fühlbar geworden. Ich glaube allerdings,
dass hier der wunde Punkt meiner Begabung liegt. Ich arbeite im Grunde mehr mit dem armseligen Verstande als mit intuitiver
Veranlagung, vielleicht bin ich gerade deshalb zur Assistentin des Meisters geeignet.« 8
Edith Stein ist eine sehr strenge Denkerin, deren Analysen klar und durchsichtig sind. Dass es ihr dennoch nicht an Emotionalität
mangelt, zeigen immer wieder ihre Reaktionen auf Husserls Ansprüche. Sie wehrt sich dagegen, seine »Dienerin« zu sein, die
ohne Widerspruch gehorcht. Vielleicht ahnt sie auch, dass die Arbeit, die sie hier zu machen hat, ihr eigenes denkerisches
Fortkommen nicht nur fördert, sondern manchmal sogar eher behindert undgefangen hält im Nachvollzug der Gedanken eines anderen. Stein möchte ihre philosophischen Ideen unbedingt systematisch weiterentwickeln.
Über all dies spricht sie mit Roman Ingarden. Die Beziehung zwischen den beiden wird immer intensiver. Zumindest von Steins
Seite ist Liebe im Spiel. Am 24. Dezember 1917 schreibt sie: »Mein Liebling, diesen Abend möchte ich noch einmal bei Dir sein und Dir manches sagen, was ich
Dir schuldig geblieben bin.« 9 Näheres über die Art der Beziehung können wir den spärlichen Quellen nicht entnehmen, nur, dass Stein sich in einer Krise
befindet, sich unsicher ist, wohin ihr Weg sie führen wird.
Der Krieg, in dem so mancher ihrer Kommilitonen gefallen ist, bedrückt sie und ihre Assistentinnentätigkeit bei Husserl ist
nicht weniger deprimierend. Roman Ingarden ist inzwischen in seine Heimat Polen zurückgekehrt, ebenfalls sehr
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