Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
mehrdeutig. Manche Äußerungen befremden, so etwa, wenn sie 1930
vor dem Bildungsausschuss des deutschen Katholischen Frauenbundes fordert, die Frau solle sich, da sie ihrer Natur nach zur
Mutter und Gattin bestimmt sei, der Erziehung ihrer Kinder widmen und ihrem Mann gegenüber gehorsam sein. Sie selbst lebt
ja gerade nicht dieser Forderung entsprechend, sondern bleibt unverheiratet und widmet sich mit ganzer Kraft einer »Männerdisziplin«,
der Philosophie.
Im Frühjahr 1931 gibt Edith Stein ihre Lehrerinnentätigkeit in Speyer auf. Noch einmal möchte sie es mit einer Habilitationsschrift
versuchen, diesmal mit einem Thema zur christlichen Philosophie. Sie arbeitet über »Akt und Potenz«, ausgehend von Thomas
von Aquin. Stein setzt sich auseinander mit der Fähigkeit zu Aktivität und Selbstentfaltung. Aber sie hat wieder kein Glück:
Die Habilitation bleibt ihr verwehrt, wobei jetzt zur Frauenfeindlichkeit noch der wachsende Antisemitismus hinzukommt. Stein
weiß nun endgültig, dass diese Tür für sie verschlossen bleiben wird, und so verbannt sie den schönen Wunschgedanken für alle
Zeit aus ihrem Kopf. Stattdessen bewirbt sie sich in Münster, wo das Deutsche Institut für wissenschaftliche Pädagogik, das
unter kirchlicher Trägerschaft steht, eine Dozentin für »Fragen der Frauenbildung« sucht. Edith Stein bekommt die Stelle und
hat die Aufgabe, Vorlesungen über christliche Erziehung zu halten.
Doch schon nach einem Jahr ändert sich wieder alles: Hitler wird am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt.Juden verlieren ihre beruflichen Positionen und auch Stein muss die Dozentur aufgeben. Was bleibt ihr noch? Alle Berufswünsche
haben sich zerschlagen. Es ist, als ziehe sich eine Schlinge immer enger um ihren Hals. Wo ist noch ein Ort, an dem sie frei
atmen kann? Zum freien Atmen braucht sie die Möglichkeit, ihre Radikalität zu leben. Es muss ein Ort sein, an dem es keine
Halbheiten gibt und man alles von ihr fordert.
Edith Stein stellt sich im Juni 1933 im Kölner Karmelitinnen-Kloster vor und wird angenommen. Gerade jetzt kann ihre Familie
einen solchen Schritt überhaupt nicht verstehen: Juden werden diskriminiert und bedrängt, und sie zieht sich in ein Kloster
zurück. Stein selbst sieht es ganz anders: Für sie bedeutet der Eintritt ins Kloster nicht die Flucht vor der Solidarität
mit ihrem Volk, sondern die Annahme des Kreuzes, das die Juden zu tragen haben, indem sie von den Nazis verfolgt werden. Und
so lautet denn ihr Ordensname auch Theresia Benedicta a Cruce, die vom Kreuz Gesegnete. Dass Stein sich große Sorgen macht
um ihr Volk, zeigt der Versuch einer Audienz bei Papst Pius XI. Sie ist überzeugt davon, dass ein weltweites Rundschreiben des Papstes etwas zur Rettung der Juden beitragen könnte, doch
sie hat keinen Erfolg: Ein von ihr verfasstes Schreiben gelangt zwar auf den Schreibtisch des kirchlichen Oberhauptes, hat
jedoch keine direkte Wirkung.
Auch nach dem Eintritt ins Kloster gibt Edith Stein das Philosophieren nicht auf. Dass ihr die Erlaubnis dazu erteilt wird,
ist nicht selbstverständlich, denn die Karmeliterinnen sind ein sehr strenger, ganz auf Abgeschlossenheit und Gebet ausgerichteter
Orden. Doch Edith Stein darf sogar Besuche empfangen und ihre Korrespondenz weiterhin pflegen. So weiß sie genau, was in Deutschland
vor sich geht.Am 27. April 1938 stirbt Husserl in Freiburg im Breisgau. Weil er Jude war, redet fast niemand darüber. Trotz dieser traurigen politischen
und gesellschaftlichen Entwicklung verfällt Stein nicht in Depression und Passivität. Sie beginnt mit ihrem philosophischen
Hauptwerk, dem sie den Titel
Endliches und ewiges Sein
gibt.
Sie ist der Meinung, der Mensch, der innerhalb der zeitlichen Begrenztheit sein Leben vollziehe, erhalte eine letzte Begründung
für dieses sein endliches Sein nur durch das göttliche, ewige Sein. Daher brauche die Philosophie notwendigerweise die Theologie,
ohne selbst Theologie werden zu müssen. »Sie bedarf der Ergänzung von der Theologie her, ohne dadurch Theologie zu werden.« 15
Wie Descartes, Augustinus oder Husserl geht Stein davon aus, dass die Gewissheit des eigenen Seins die erste Wirklichkeit
für uns Menschen ist. Egal, was ich denke, wahrnehme oder empfinde – Tatsache ist der jeweilige Akt des Denkens, Wahrnehmens
und Empfindens. »Diese Gewissheit des eigenen Seins ist – in einem gewissen Sinne – die
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