Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
sie braucht auch die Möglichkeit des Rückzugs in sich selbst. Für die temperamentvolle Martha Arendt ist das zu dieser
Zeit schwer zu verstehen.
Im Jahr 1920 heiratet Martha Arendt wieder. Ihre Wahl fällt auf Martin Beerwald, einen Witwer mit zwei fast erwachsenenTöchtern. Hannah Arendt kann sich jedoch mit den Mädchen, die ihr zu zurückhaltend sind und langweilig auf sie wirken, nicht
anfreunden. Die Leute, deren Umgang sie bevorzugt, sind ganz anders geartet: selbstbewusst, diskutierfreudig und von einer
überdurchschnittlichen intellektuellen Neugierde. Zumeist sind es Studenten, die sie sich als Gesprächspartner aussucht. Mit
ihnen kann sie über ihre für ein vierzehnjähriges Mädchen ungewöhnlichen Leseerfahrungen sprechen: über Werke von Immanuel
Kant, Karl Jaspers, Sören Kierkegaard.
Verständlich ist diese frühe Auseinandersetzung mit den brennenden Sinnfragen des Lebens bei Hannah Arendt, ist sie doch als
Kind bereits zweimal mit Sterben und Tod enger Bezugspersonen konfrontiert worden. In einem Interview von 1964 drückt sie
es so aus: »Das Bedürfnis zu verstehen, das war sehr früh schon da. Sehen Sie, die Bücher gab’s alle zu Hause, die zog man
aus der Bibliothek.« 2 Arendt kann sich mit den Tatsachen nicht zufriedengeben. Sie muss nach den Gründen fragen: Warum ist etwas, wie es ist? Damit
gehört das philosophische Fragen bereits in dieser Zeit zu ihrem Leben und ist nicht mehr wegzudenken.
Nicht nur in der Wahl ihrer Lektüre ist Arendt sehr eigenwillig. Sie ist auch sonst nicht leicht zu bändigen und lebt ihre
Stimmungen ohne große Rücksicht auf andere aus. Morgenstund hat in ihren Augen keineswegs Gold im Mund, und sie bringt die
Mutter dazu, sie in der Schule von den frühen Unterrichtsstunden befreien zu lassen. Doch damit nicht genug: Als sie fünfzehn
Jahre alt ist, kommt es eines Tages zu einer Situation, in der sie sich von einem Lehrer beleidigt fühlt. Sie fordert die
Mitschüler auf, dessen Unterricht nicht mehr zu besuchen. Daraufhinfliegt Arendt von der Schule und muss das Abitur als Externe ablegen.
Ihre Mutter kann durchsetzen, dass sie, zu dieser Zeit noch ohne Abitur, an der Universität in Berlin studieren kann. Sie
mietet sich ein Zimmerchen, besucht Kurse in Griechisch, Latein und Theologie und bereitet sich neben dem Studium aufs Abitur
vor und besteht die Prüfung im Jahr 1924 glänzend. In Arendts Innerem sieht es aber nicht so hell aus. Sie sehnt sich nach
etwas, das ihrem Leben Konturen geben könnte. Sie möchte nicht nur mehr von der Welt verstehen, sondern auch sich selbst besser
kennenlernen.
Im selben Jahr noch geht Hannah Arendt nach Marburg, um Philosophie, Theologie und Griechisch zu studieren. Das sind nicht
gerade Fächer, die eine gesicherte Zukunft garantieren. »Irgendwie war es für mich die Frage: Entweder kann ich Philosophie
studieren oder ich gehe ins Wasser sozusagen. Aber nicht etwa, weil ich das Leben nicht liebte! Nein! Ich sagte vorhin – dieses
Verstehenmüssen.« 3 Sicherheit hin oder her, für Arendt gibt es im Moment wesentlich wichtigere Motive für die Wahl der Studienfächer.
Marburg ist zwar keine Großstadt, aber ein Zentrum der Philosophie. Hier lehrt Martin Heidegger, fünfunddreißig Jahre alt,
verheiratet und Vater zweier Söhne. Er hat den Ruf einer schillernden Persönlichkeit, eigenwillig bis zur Kauzigkeit. Er betritt
den Hörsaal meist in Lodenanzug oder Kniebundhose und im Winter fährt er manchmal auf Skiern in die Universität. Philosophisch
ist er ein
enfant terrible,
sehr eigenständig und unangepasst, was Arendt fasziniert. Viele Jahre später noch spricht sie davon, dass man bei Heidegger
das Denken lernen kann. Ihm kommtes nicht darauf an, Philosophie als Wissensstoff zu vermitteln, er will die Studenten dazu bringen, die Gedanken einzelner
Philosophen selbstständig und lebendig nachzuvollziehen.
Auf seine Studenten und vor allem die Studentinnen übt er eine fast magische Anziehungskraft aus. Auch Arendt kann sich dem
nicht entziehen, was jedoch auf Gegenseitigkeit beruht: Martin Heidegger verliebt sich in das achtzehnjährige Mädchen, und
bald wird er sie als Muse bezeichnen, die ihm Inspiration ist für das Werk, an dem er gerade arbeitet:
Sein und Zeit.
Mit diesem Buch wird Heidegger Weltruhm erlangen. Der Ausgangspunkt seiner Erörterung ist das Alltagsleben des Menschen, der
in seinen Augen ein »In-die-Welt-Geworfener« ist. Als
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