Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
allgemein gehalten. Ihre Mutter erwartet genau
diese Reaktion von ihrer Tochter. Sie wird dem Lehrer einen eingeschriebenen Brief schicken, in dem sie ihren Unmut über solche
Diskriminierungen kundtut. Hannah hat einen Tag schulfrei und genießt es. Später wird sie lachend und ein wenig stolz von
dieser Begebenheit und ähnlichen Erlebnissen aus ihrer Jugend berichten. Sie werfen ein Licht auf ein etwas anderes Elternhaus,
eine besondere Familie.
Am 14. Oktober wird 1906 wird Hannah Arendt in Linden bei Hannover geboren. Sie bleibt das einzige Kind von Paul Arendt und Martha
Cohn. Die Mutter hat Französisch und Musik studiert und ist eine große Bewunderin von Rosa Luxemburg. Der Vater arbeitet als
Ingenieur bei einer Elektrizitätsgesellschaft, was ihn nicht daran hindert, sich auch auf anderen Gebieten zu bilden. Er besitzt
eine gut ausgestattete Bibliothek, in der sich vor allem die römischen und griechischen Klassiker befinden, die Hannah Arendt
später nützlich sein werden.
Die Cohns waren in der Mitte des 19. Jahrhunderts aus Russland nach Königsberg ausgewandert, weil sie vor den antijüdischen Gesetzen des Zaren Nikolaus Angst hatten.Die Arendts sind bereits seit dem 18. Jahrhundert in Königsberg. Beide Familien können als »aufgeklärt« bezeichnet werden. Sie sind dem europäischen Denken sehr
zugetan und hängen nicht einem orthodoxen Judentum an. Paul und Martha engagieren sich vor allem politisch in der sozialdemokratischen
Bewegung. Gerade Königsberg, die Hauptstadt Ostpreußens, war im 18. Jahrhundert ein Zentrum der deutsch-jüdischen Aufklärung. An der »Albertina«, der berühmten Universität, lehrte einst der
Philosoph Immanuel Kant. In der Zeit, als Hannah Arendt geboren wird, leben fast 20 000 Juden in Königsberg, viele davon stammen aus Russland.
Die Erziehung der kleinen Hannah wird sehr ernst genommen. Martha Cohn führt minutiös Tagebuch. Ihren Beobachtungen zufolge
ist Hannah ein lebhaftes, fröhliches, aufnahmefähiges Kind. Das Einzige, was der Mutter Kummer bereitet, ist die fehlende
musikalische Begabung ihrer Tochter. Sie singt zwar gern, aber falsch. Dafür lernt sie umso schneller sprechen.
Als Hannah zwei Jahre alt ist, zieht die Familie nach Königsberg, ihre eigentliche Heimat, denn Paul Arendt leidet an Syphilis.
Diese Krankheit, gegen die es noch keine Medizin gibt, ist zu dieser Zeit weit verbreitet. Paul Arendt hat sie sich bereits
in der Jugend zugezogen. Schon vor dem Ausbruch der Krankheit ein distanzierter, streng wirkender, eher wortkarger Mann, tritt
er jetzt Schritt für Schritt aus dem Leben seiner Tochter hinüber in eine Welt, zu der sie keinen Zutritt hat. Es ist eine
einsame Zeit für Hannah. Wegen der Erkrankung ihres Vaters darf sie keine Schulkameraden nach Hause einladen. Schließlich
erreicht die Krankheit den dritten Grad, und Paul muss in die psychiatrische Klinik eingeliefert werden.
Ein wichtiger Mensch für sie wird in dieser schwierigen Zeit der Großvater Max Arendt. Er holt Hannah an den Wochenenden ab
und unternimmt lange Spaziergänge mit ihr, auf denen er wunderbare Geschichten erzählt. In einem Essay über die Schriftstellerin
Tania Blixen schreibt sie später: »Nur wer sich vorstellen kann, was ohnehin geschieht, und es in der Phantasie wiederholt,
wird die Geschichten erkennen, und nur wer die Geduld hat, sie wieder und wieder zu erzählen, wird sie gut erzählen können.« 1 Alles, was ein Mensch erlebt, ist leichter zu ertragen, wenn man die Phantasie daran arbeiten lässt und Geschichten darüber
erzählen kann. Diese Kraft des Erzählens wird Hannah Arendt zeitlebens begleiten.
Der Großvater stirbt im März 1913 und im Oktober desselben Jahres der Vater. Hannahs Reaktion ist für ihre Mutter nicht leicht
nachzuvollziehen: Das Kind erscheint relativ unbeeindruckt. Martha Arendt ist eine sehr stark extrovertierte Frau von überschießender
Wärme und Leidenschaftlichkeit, der man jederzeit ansieht, wie es ihr geht. Mit dem phasenweisen Insichgekehrtsein der Tochter
hat sie ihre Probleme und erkennt nicht, dass diese das Erfahrene auf ihre Weise ebenfalls sehr stark erlebt, nur eben anders
damit umgeht. So spricht etwa Hannahs Anfälligkeit für Krankheiten in den nächsten drei Jahren eine beredte Sprache. Hannah
Arendt hat beide Seiten in sich: Sie liebt das gesellige Leben, sucht den Kontakt mit anderen und hat viel übrig für Gespräche,
aber
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