Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
ursprünglichste Erkenntnis.« 16 Gerade in diesem Bewusstsein von der eigenen Wirklichkeit in der Zeit, im Bewusstsein also der eigenen Endlichkeit, drängt
sich für Stein die Idee des Ewigen, nicht zeitlich Gebundenen auf. Die Idee eines unendlichen Seins ist das Gegenbild zu unserer
Endlichkeit. Der Mensch findet sich als in die Welt »geworfen« vor. Hier nimmt Stein einen Ausdruck von Martin Heidegger auf.
Die »Geworfenheit« bedeutet für den Menschen, nicht zu wissen, woher er kommt, sondern sozusagen überrascht zu werden von
seinem Hiersein. Wenn er anfängt zu philosophieren, stellt sich ihm unweigerlich die Frage nach dem Woher. Dieser philosophierende
Mensch findet keine Ruhe, er muss immer weiterfragennach einem Grund seines Seins. Edith Stein deutet die »Geworfenheit« des Menschen als »Geschöpflichkeit«. Wir Menschen sind
Geschöpfe Gottes und im Wissen darum können wir Ruhe und Halt finden, einen Sinn, der Geborgenheit vermittelt. Diesen Sinn
kann der Mensch niemals selbst schaffen.
Nach Beendigung des Werkes 1937 bemüht sich Stein um eine Veröffentlichung, was aber durch die Tatsache verhindert wird, dass
sie Jüdin ist. Ende 1939 gibt sie dieses Vorhaben endgültig auf und
Endliches und ewiges Sein
wird erst 1950 erscheinen können.
Den Mitschwestern im Kloster wird die Gefährdung Edith Steins sehr bald bewusst. Sie muss dringend in Sicherheit gebracht
werden. Ende 1938 zieht sie um nach Holland in das Karmelitinnenkloster von Echt. Aber als im Mai 1940 deutsche Truppen die
Niederlande besetzen, ist auch hier die Ruhe bedroht. Edith Steins Schwester Rosa, die nach dem Tod der Mutter 1936 ebenfalls
der katholischen Kirche beigetreten war, flieht trotz der Gefahr ebenfalls nach Echt und übernimmt im Kloster den Pfortendienst.
Erna ist in die USA emigriert, Else nach Kolumbien. So lebt die Familie in alle Winde verstreut und Edith Steins Gemeinschaft
ist der Orden.
Im Sommer 1942 wird der 400. Geburtstag von Johannes vom Kreuz, Begründer des männlichen Zweigs der Unbeschuhten Karmeliter, gefeiert. Stein soll eine
Studie über die Theologie dieses Ordensmannes schreiben. Sie verfasst eine Interpretation seiner Gedichte und nennt diese
Schrift
Kreuzeswissenschaft
. Selbst hat sie nie Gedichte geschrieben, umso intensiver versenkt sie sich in diese so ganz andere, völlig untheoretische
Form der Begegnung mit Gott. Mehr und mehr entfernt sie sich vomstrengen Denken der Philosophie und nähert sich der Möglichkeit einer mystischen Einheitserfahrung an.
Edith Stein beginnt sich aus der Welt zurückzuziehen, als wüsste sie, dass sie es ohnehin bald tun muss. Dieser erste Abschied
ist ein freiwilliges, den Sinnen und der philosophischen Forschung Entsagen. In den letzten Monaten ihres Lebens spielt die
Philosophie für Edith Stein keine Rolle mehr. Sie wählt das Bild
Dunkle Nacht
»von Johannes vom Kreuz, um ihre Situation auszudrücken: In der Nacht hält sich der Mensch offen für die direkte Begegnung
mit Gott. Die Sinne und die Vernunft schweigen. Keine Rationalität vermag diese Nacht zu erhellen. Vollendet wird der Prozess
durch Gott selbst, indem er die Hingabe des Menschen annimmt.
Doch ein anderes, endgültigeres Abschiednehmen steht bevor. Nach der Besetzung der Niederlande durch die Deutschen wird die
Situation für Edith und Rosa Stein immer gefährlicher. Sie bekommen zwar die Erlaubnis, in der Schweiz in einem Karmeliterinnenkloster
aufgenommen zu werden, aber die Ausreiseerlaubnis wird nicht erteilt. Am 2. August 1942 werden die beiden Frauen von den Nazis abgeholt. »Komm, wir gehen für unser Volk« 17 , sagt Edith zu Rosa. Am 9. August trifft der Zug in Auschwitz ein. Beide sind wahrscheinlich noch am selben Tag vergast worden.
Den weitaus größten Teil ihres Lebens war Edith Stein eine leidenschaftliche Philosophin. Dass sie zuletzt die Philosophie
eingebettet sah in den Glauben, hat ihr vielleicht geholfen, den Transport nach Auschwitz und die drohende Ermordung leichter
zu ertragen. Beim Versuch, dieses Ende zu verstehen, stößt das Denken an seine Grenze.
ES GESCHIEHT MITTEN IM UNTERRICHT: Eine Schülerin steht plötzlich auf, packt ihre Sachen zusammen und verlässt das Klassenzimmer.
Das Mädchen heißt Hannah Arendt, und was sie dazu bringt, den Unterricht abzubrechen, sind antisemitische Äußerungen des Lehrers.
Dabei betrafen die Bemerkungen nicht einmal sie selbst, sondern waren ganz
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