Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
beobachten und zu dokumentieren. Ist Adolf Eichmann, der die Transporte von Juden in die Vernichtungslager organisiert
hat, ein Teufel in Menschengestalt? Würde Hannah Arendt dem radikal Bösen ins Auge blicken? Mit Herzklopfen macht sie sich
auf die Reise. Sie muss es tun, denn wieder ist da dieses Ich-will-Verstehen.
In einem der ersten Briefe an ihren Mann schreibt Arendt: »Dass er sich selbst sehr gerne
öffentlich
erhängen möchte, hast Du vermutlich gelesen. Mir blieb die Spuckeweg. Das Ganze stinknormal und unbeschreiblich minderwertig und widerwärtig. Verstehen tue ich es noch nicht, aber mir ist,
als ob der Groschen irgendwann einmal fallen wird, nämlich bei mir.« 16
Vom Polizeiverhör gibt es 3600 Seiten Protokoll und Arendt liest sie alle. Sie ist hervorragend informiert und versucht, soweit es möglich ist, Eichmann
ohne Vorurteile zu betrachten. Die Vorstellung vom Bösen in Menschengestalt gibt sie bald schon auf. Weit eher erscheint ihr
Adolf Eichmann banal, marionettenhaft. Seine Sprechweise ist von Überheblichkeit und Unsicherheit gekennzeichnet. Eines der
grausamsten Sprichwörter, die er ständig im Mund führt, ist: »Wer A sagt, muss auch B sagen.« Wer mit dem Töten angefangen
hat, muss weitermachen. Er redet immerzu in vorgefertigten Sprachschablonen. Arendt ist irritiert, nimmt jedoch die Herausforderung
an und versucht, zu einer neuen Urteilsfindung zu kommen. Sie kann nicht mehr sagen, in Eichmann sei ihr das radikal Böse
entgegengetreten.
Mit ihrem
Bericht über die Banalität des Bösen
tritt Arendt eine breite Kontroverse los. 1964 erklärt sie in einem Fernsehinterview dazu: »Sehen Sie, es gibt Leute, die
nehmen mir eine Sache übel, und das kann ich gewissermaßen verstehen: Nämlich, dass ich da noch lachen kann. Aber ich war
wirklich der Meinung, dass der Eichmann ein Hanswurst ist, und ich sage Ihnen: Ich habe sein Polizeiverhör, 3600 Seiten, gelesen und sehr genau gelesen. Und ich weiß nicht, wie oft ich gelacht habe; aber laut! Diese Reaktion nehmen mir
die Leute übel. Dagegen kann ich nichts machen.« 17 In ihren Augen hatte sich Eichmann »niemals vorgestellt, was er eigentlich anstellte«. Er hatte kein Bewusstsein von seinen
Taten.
Hier meldet sich wieder die Philosophin Hannah Arendt zurück. In ihrem Hinterkopf lauert bereits eine Frage, die sie die letzten
Lebensjahre zunehmend beschäftigen wird: In welchem Zusammenhang steht die Fähigkeit nachzudenken, sich etwas vorzustellen,
zur Urteilsfindung und zum Handeln? Auf welche Weise funktioniert das Denkvermögen eines Menschen, der fähig ist, derart unmoralisch
zu handeln? Adolf Eichmann ist – zu diesem Schluss kommt Arendt – ein gedankenloser Mensch, einer, bei dem das Denken das
Handeln nicht begleitet. Das Böse ist so für sie entdämonisiert worden und hat sich in eine banale Wirklichkeit verwandelt.
Die Öffentlichkeit hat Arendt endgültig eingeholt. Sie steht im Rampenlicht, bekommt Berge von Briefen zu ihrem
Eichmann -
Buch, muss Rede und Antwort stehen, sich verteidigen. Es sieht so aus, als hätte sie überhaupt kein Privatleben mehr. Der
Schein trügt, gerade hat Arendt eine neue Bekanntschaft gemacht. Es ist der deutsche Schriftsteller Uwe Johnson, den sie 1966
zum ersten Mal trifft. Damit beginnt eine Freundschaft, die bis zu ihrem Tod dauern wird.
Uwe Johnson ist nicht gerade das, was man einen zugänglichen Menschen nennen kann. Sehr zurückhaltend, diskret und ein wenig
steif, so wirkt er auf andere. Selbst als sie schon vertrauter geworden sind, bleibt er in der Briefanrede bei »Liebe Frau
Arendt«, während diese längst »Lieber Uwe« schreibt. Johnson ist indes ein zuverlässiger Freund, der seine Gefühle hinter
der harten Schale verbirgt. Es gibt viele Berührungspunkte zwischen den beiden, vor allem im Umgang mit der Geschichte und
in der Verehrung Walter Benjamins. Uwe Johnson lernt, wie er sagt, viel im Umgang mit Arendt. Sie gibt ihm quasikostenlosen Unterricht in Philosophie und Politik. Dass sie den Mut hat, selbst zu urteilen, ihr persönliches Gesicht in die
Öffentlichkeit zu tragen, gefällt ihm vor allem an ihr.
Diese Freundschaft ist wichtig für Arendt gerade in einer Zeit, in der es ihrem Mann nicht besonders gut geht. Die
Eichmann-
Kontroverse hat ihn stark mitgenommen und schlägt sich auf seine Gesundheit nieder. Auch Jaspers’ Gesundheitszustand ist bedenklich.
Für Arendt sind Freundschaften auch
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