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Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben

Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben

Titel: Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingeborg Gleichauf
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gilt für Hannah Arendt, dass sie den Versuch machen muss zu verstehen, und so beginnt sie,
     sich intensiv mit der Geschichte des Antisemitismus auseinanderzusetzen. Materialien zu diesem Thema findet sie in den Bibliotheken.
     Nach dem Krieg versucht sie zunächst, alte Kontakte aufzufrischen. An Karl Jaspers schreibt sie am 18.   November 1945: »Lieber, lieber Karl Jaspers   –, seit ich weiß, dass Sie beide durch den ganzen Höllenspektakel heil durchgekommen sind, ist es mir wieder etwas heimatlicher
     in dieser Welt zumute.« 11 Dennoch können die vergangenen Jahre nicht einfach vergessen werden. Zu schrecklich war das, was geschah. Wieder in Deutschland
     zu leben, kann Arendt sich nicht vorstellen.
    Sie beginnt mit einem Buch über
Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft.
Es wird ein Riesenopus von tausend Seiten, in dem sie die Geschichte des Antisemitismus vom Beginn des 18.   Jahrhunderts an aufarbeitet. Eine Unmenge an Fakten bieten sich den Lesern, nicht gerade sehr übersichtlich und systematisch,
     was manche dann auch prompt bemängeln. Arendt bleibt ihrem Ansatz treu, die Geschichte im Sinne Walter Benjamins als »Trümmerhaufen«
     zu betrachten. Weniger denn je ist sie von einer Kontinuität in der Geschichte überzeugt. Was in den letzten Jahren geschah,
     hat gerade deren Brüchigkeit bewiesen.
    Hat man sich einmal eingelesen, kann man Gefallen finden an der assoziativen Art, in der Arendt vorgeht. Ein Kernstück der
     Analyse bildet das Kapitel über den modernen Massenmenschen, der, Hannah Arendt zufolge, in einer geistigen und sozialen Heimatlosigkeit
     lebt. Die eigene Urteilskraft und der gesunde Menschenverstand fehlen. Darin aber liegt die Chance für den totalen Staat.
     Alle werden gleichgeschaltet, es gibt keine Individualität mehr. Muss man sich damit abfinden oder gibt es eine andere Möglichkeit?
     Das ist die eigentliche Frage Hannah Arendts, die versucht, gedanklich zu einem Prinzip vorzustoßen, das helfen kann, eine
     andere Welt zu schaffen.
    Es wird deutlich, in welch starkem Maß für Arendt die Handlungsfähigkeit des Menschen von Bedeutung ist. Hitlers Volk funktionierte,
     weil nahezu niemand mehr in der Lage war, selbstständig zu handeln. »Das einzige Gegenprinzip gegen diesen Zwang und gegen
     die Angst, sich selbst im Widersprechen zu verlieren, liegt in der menschlichen Spontaneität, in unserer Fähigkeit, ›eine
     Reihe von vorne anfangen‹ zu können.« 12 Handeln heißt demnach, einen Anfang zu setzen, um dann auf diesem spontanenAnfangen aufbauen zu können. Mit dem »Prinzip Spontaneität« legt sie den Grund für ihre praktische Philosophie, für das, was
     sie »Theorie des Handelns« nennt. Ein Urbild für die Spontaneität ist dem Menschen in der Tatsache des Geborenwerdens gegeben.
     Philosophisch ausgedrückt: Die Geburt ist die Bedingung der Möglichkeit für Spontaneität. Damit hat Arendt auch einen direkten
     Bezug zur Politik hergestellt. Dort nämlich ist es wichtig, immer wieder zur spontanen Aktion zu finden, nicht in irgendeiner
     Organisation aufzugehen. Hannah Arendt erlebt eine sehr intensive Zeit, sowohl denkerisch wie auch bei allen anderen Tätigkeiten.
    Im November 1949 kommt Arendt zum ersten Mal nach dem Krieg wieder nach Deutschland im Auftrag der »Jewish Cultural Reconstruction«,
     einer Organisation zur Rettung jüdischen Kulturgutes. Ihr Urteil ist niederschmetternd. An Heinrich Blücher schreibt sie:
     »Die Deutschen leben von der Lebenslüge und der Dummheit.« 13 Die Umtriebigkeit in Deutschland erscheint ihr verlogen. Sie hat den Eindruck, die Menschen verdrängten die Vergangenheit
     und stürzten sich stattdessen in eine sinnlose Geschäftigkeit. Wohl fühlt sich Arendt nur bei Jaspers in Basel. Wie immer
     bessert sich ihre Stimmung, wenn sie auf ein Gespräch hoffen kann, wenn Freunde da sind, auf die Verlass ist.
    Sechs Monate ist Arendt unterwegs, eilt von Stadt zu Stadt und trifft unzählige Leute. Sie erwartet, dass ihr Mann ihr jede
     Woche einen Brief schreibt. Als er einmal ausbleibt, reagiert sie prompt: »Mir ist das Herz sehr schwer. Ich kann diesen völlig
     fehlenden Sinn für die primitivsten menschlichen Verantwortungen und Verpflichtungen nicht verstehen. Ich kann nicht verstehen,
     dass Du so wenig Einbildungskrafthast, dass Du Dir absolut nicht vorstellen kannst, wie mir zumute ist, so in der Welt wie ein verlorengegangenes Rad herumzusausen,
     ohne jegliche Verbindung mit einem Zuhause, mit

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