Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
Vergangenheit und Zukunft«. Denken
bedeutet, der Zeit und dem Alltagsleben enthoben sein. Allerdings ist es ein Zustand, der nicht immer andauern kann. Jeder
denkende Mensch kehrt schließlich ins Tagesleben zurück und muss in der Lage sein, seine Tagesgeschäfte zu verrichten. Platon
beispielsweise ist der Meinung, jeder Mensch habe so viel praktischen Sinn und Gemeinsinn mitbekommen, dass er überleben könne.
Nach Hannah Arendts Meinung hat das Denken offensichtlich mit unterschiedlichen Dingen zu tun: Es verarbeitet die sinnlichen
Eindrücke, setzt sich mit der Welt auseinander und versucht dennoch auch, über das sinnlich Gegebene hinauszukommen in den
Bereich, den man seit den Anfängen der Philosophie den metaphysischen nennt.
Die Frage nach einem allgemeinen Sinn, nach Gott, nach dem Wesen jeder Sache beschäftigt die Menschen seit jeher. Wie steht
es mit dem Werkzeug, das uns fähig macht, zu erkennen? Kant zum Beispiel unterscheidet innerhalb des Bewusstseins zwei Fähigkeiten:
Vernunft und Verstand. Ohne es uns klarzumachen, so meint er, gehen wir mit dieser Unterscheidung im Alltag um. Wenn wir sagen,
jemand handle vernünftig, meinen wir, er handle sinnvoll, nicht einfach nur klug oder geschickt oder vorteilhaft. Den Verstand
zu gebrauchen bedeutet hingegen einfach, miteiner gewissen Folgerichtigkeit vorzugehen, logisch zu denken, das, was wir sehen und erleben, zu ordnen. Manchmal reicht
es, Sinneswahrnehmungen richtig einzuordnen, manchmal jedoch fragen wir nach deren grundsätzlicher Sinnhaftigkeit. Genau dann
aber gehen wir hinaus über das, was mit den Sinnen wahrzunehmen ist, und stoßen an die Grenzen der Erkenntnis.
Für Hannah Arendt gehört es zum Menschen dazu, Fragen zu stellen, die unbeantwortbar sind. In diesem Punkt ist sie eins mit
der Analyse Kants. Denken heißt, sich in den Bereich des Unsichtbaren zurückzuziehen. Von dem französischen Dichter Paul Valéry
gibt es ein Zitat, das sie besonders liebt und häufig anführt, um das Denken zu charakterisieren: »Tantôt je pense et tantôt
je suis« (Manchmal denke ich und manchmal bin ich). Beide Zustände gehören zur Person, das einfache Dasein und das Denken.
Das Denken selbst ist unsichtbar und daraus folgt, dass es nicht zu fassen ist. Es findet in der viel zitierten »Lücke« statt.
Arendt versucht, dem Denken noch ein wenig näherzukommen, indem sie die Frage stellt: »Was bringt uns zum Denken?« In welcher
Ausgangssituation müssen wir sein, damit wir das Bedürfnis haben, uns aus allem zurückzuziehen, um uns dem Denken zu widmen?
Auch bei dieser Frage schaut Arendt zunächst auf die »Denker von Gewerbe«, aber ihre Antworten erscheinen ihr als zu allgemein.
Sie kann damit nicht sehr viel anfangen.
Da fällt ihr Blick auf einen Philosophen, der weniger professionell erscheint, dafür aber umso lebendiger: Sokrates. Sokrates
hat seine Gedanken nicht schriftlich niedergelegt, er war ein ganz ursprünglicher Philosoph, dessen Denken sich im Gespräch
mit den Leuten entwickelt hat.Was Arendt zudem an Sokrates fasziniert, ist die Bewegung dieses Denkens. Es ist eine Kreisbewegung, bei der es zu keinem
endgültigen Ergebnis kommt. Dem Denken geht es allein darum, in Bewegung zu bleiben, indem es immer wieder dieselben Fragen
stellt. Lebendigsein heißt Fragen stellen, so könnte man die Lebensanschauung von Sokrates zusammenfassen.
Sokrates war in beiden Bereichen präsent: Er lebte den politischen Alltag intensiv und praktizierte die Philosophie ebenso
intensiv. Es kommt nicht auf die Denker vom Fach an, sondern darauf, einzusehen, dass das Philosophieren in allen Menschen
angelegt ist. Übt man diese Fähigkeit nicht, so ist man nach Hannah Arendt wie ein »Schlafwandler«. Philosophieren heißt,
wach durchs Leben gehen, sich den Fragen nicht verschließen.
Es erscheint Arendt auch interessant, wo Sokrates das Denken lokalisiert. Er nennt es ein Zwiegespräch zwischen mir und mir,
was bedeutet: Ich muss den Blick auf mich selbst richten, wenn ich denke. Ich erlebe mich dann als Fragenden und als Antwortgebenden.
Vom Marktplatz des Alltagsgetriebes nach Hause gehend, erlebt Sokrates ein Alleinsein mit sich, das ihm ein seltsames Phänomen
offenbart: Allein mit mir bin ich zu zweit. Ich kann mir nicht ausweichen, muss meinen Fragen Rede und Antwort stehen. Es
ist wie auf einer Bühne. Der Schauplatz des Geschehens ist allerdings das Bewusstsein. Das Drama ist ein
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