Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
deshalb immer wichtiger geworden, weil die Zeitumstände nicht gerade Grund zur Euphorie
geben. Besonders der Vietnamkrieg belastet sie stark. In ihren Augen wird dieser Krieg das Ansehen der Vereinigten Staaten
in der Welt stark beschädigen.
Eine zuverlässige Brieffreundin in dieser Zeit ist Mary McCarthy, die Arendt 1945 auf einer Party kennengelernt hat. Sie schreibt
Theaterkritiken und ist Autorin eines Romans. Obwohl die beiden ziemlich verschieden sind, freunden sie sich an. Mary McCarthy
ist ein eher unsteter Typ. Sie reist ständig herum und hat wechselnde Affären. Sie braucht nicht das gleiche Maß an Kontinuität
wie Arendt. In einem Brief Arendts an die Freundin heißt es: »... jedesmal, wenn ich einen Brief von Dir bekomme, wird mir bewusst, wie sehr ich Dich vermisse. Die Zeiten sind lausig, und
wir sollten näher beieinander sein.« 18 Ein Lichtblick in dieser Zeit sind allerdings die vielen Demonstrationen junger Leute gegen den Vietnamkrieg.
Gleichzeitig gewinnt in dieser Zeit die Philosophie wieder an Bedeutung. So schreibt Arendt im Frühjahr 1968 an Mary McCarthy:
»Ich habe ein Gefühl der Sinnlosigkeit bei allem, was ich tue. Im Vergleich zu dem, worauf es ankommt, wirkt alles andere
nichtig. Ich weiß,dass dieses Gefühl verschwindet, sobald ich mich in jene Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft fallen lasse, die der richtige
zeitliche
Ort
des Denkens ist. Was ich nicht tun kann, wenn ich lehre und ganz
da
sein muss.« 19
Arendt gibt hier einen wichtigen Hinweis auf das, was Denken wirklich ausmacht: Beim Denken ist man nicht ganz da, das heißt,
man zieht sich zurück aus dem, was einen täglich beschäftigt. Was Arendt bei ihrer frühen Kant-Lektüre bereits gelernt hatte,
steht für sie nun im Mittelpunkt, nämlich über das Denken nachzudenken. Auch für Kant war es eine Grundfrage zu klären, wie
das Bewusstsein beschaffen ist und welche unterschiedlichen Verstehensweisen möglich sind.
Die Sache mit der »Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft« ist relativ leicht einzusehen. Wenn man beginnt, intensiv nachzudenken,
hat man den Eindruck, von einem alltäglichen Umgang mit Raum und Zeit abgeschnitten zu sein. Das Gefühl eines leichten Schwebezustandes
stellt sich ein. Man fällt aus dem normalen Zeitverlauf heraus. Oft sagt man von Leuten, die denken, sie seien »geistesabwesend«.
Sie leben in dem Moment in einer anderen Welt. Mit diesem Zustand wird Arendt sich verstärkt beschäftigen.
Gleichzeitig schreibt sie eine Fülle von Essays über verschiedene Themen. Einer ihrer schönsten ist der über Rosa Luxemburg.
Von ihr hat sie gelernt, wie wichtig spontane Aktionen sind und wie hinderlich ein Übermaß an Organisation sein kann. Auch
in der Beziehung Rosa Luxemburgs zu Leo Jogiches findet Arendt Entsprechungen zu ihrer eigenen Ehe: »Wir werden niemals wissen,
wieviel von Rosa Luxemburgs politischen Ideen von Jogiches stammte; in einer Ehe ist es nicht immer einfach, die Gedanken
der einzelnen Partner auseinanderzuhalten.« 20
Was ihr Privatleben betrifft, so hat Arendt in den Jahren 1969 / 70 einige harte Schicksalsschläge einzustecken. Heinrich Blücher erleidet mehrere Herzinfarkte, und am 26. Februar 1969 erreicht sie die traurige Nachricht von Karl Jaspers’ Tod. Was Arendt so bewundert an Jaspers und wofür sie ihm
zeitlebens dankbar ist, ist seine Fähigkeit, sich mit seinem Denken nicht nur an die gebildete Fachwelt zu wenden, sondern
an den philosophischen Hunger jedes Menschen zu appellieren. Arendt hat von ihrem Freund und Lehrer diese Methode vorgelebt
bekommen. »Jaspers’ zahlreiche Äußerungen nach dem Kriege, seine Aufsätze, Vorlesungen, Radiosendungen, zeigen alle eine fast
vorsätzliche Neigung zum Popularisieren, zum Philosophieren ohne philosophische Terminologie; sie sind geleitet von der Überzeugung,
dass Vernunft und existentielles Betroffensein in allen Menschen gleich ist, dass Philosophie an alle appellieren kann. Philosophisch
gesprochen war das nur möglich, weil Wahrheit und Kommunikation als dasselbe angesetzt wurden.« 21
Im Sommer desselben Jahres hält Arendt einen Radiovortrag zu Heideggers achtzigstem Geburtstag. Noch einmal versucht sie eine
Annäherung an den Denker, ohne die persönlichen Verletzungen ins Spiel zu bringen. Sie gesteht dem Lehrer von einst zu, die
Weltabgeschiedenheit den Geschäften des Alltags vorgezogen zu haben. Sie akzeptiert, dass er
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