Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
de Beauvoir macht, macht sie mit der gleichen Sorgfalt, wobei die Gängelei durch die Familie während ihrer Jugendzeit
enorm ist. Bestimmte Bücher aus der Bibliothek des Hauses sind der Tochter grundsätzlich verboten und auch die Kontakte werden
genauestens überwacht. Wehe, Simone gäbe sich mit einer »gewöhnlichen Person« ab oder läse »ungehörige« Sätze. Dagegen zu
rebellieren, kommt ihr noch nicht in den Sinn. Dennoch ist sie empfänglich für eine Begegnung, die die folgenden Jugendjahre
entscheidend prägen wird.
Simone ist zehn, als sie Elizabeth Mabille, genannt Zaza, kennen lernt, eine »Neue« in der Klasse. Zaza öffnet Simone die
Tür zu einer ungeahnten, abenteuerlichen Welt, und zwar einzig durch ihr unkonventionelles Betragen. Zaza stammt aus einer
bourgeoisen, streng katholischen und dazu noch kinderreichen Familie. Anders als ihre Freundin kämpft Zaza auch im Alltag
und nicht nur im Denken um Unabhängigkeit. Sie macht, was sie will, und sie nimmt vor allem kein Blatt vor den Mund. Das Streberhafte,
das Simone an sich hat, fehlt Zaza völlig. Obwohl genauso begabt, arbeitet sie nicht auf irgendwelche Beurteilungenvon schulischer Seite hin, sondern richtet sich einzig nach ihren eigenen geistigen Bedürfnissen, ihren Interessen und Neigungen.
Bei einem Klaviervorspiel streckt Zaza ihrer Mutter die Zunge heraus, nachdem sie ein Stück fehlerfrei gespielt hat, das Mme.
Mabille als noch zu schwer eingestuft hatte. Die Mädchen in den vorderen Reihen senken beschämt die Köpfe und Zazas Verhalten
wird allgemein als skandalös empfunden. So etwas würde Simone de Beauvoir sich nie erlauben, aber sie täte es gern, wenn sie
nur den Mut hätte.
Mit zwölf Jahren fängt Simone langsam an, aus der von den Eltern vorgegebenen Rolle auszubrechen. Sie kann sich nicht vorstellen,
einmal so zu leben wie ihre Mutter, mit Bergen von Geschirr und Wäsche, die nie zu verschwinden scheinen, sondern eine tägliche
Aufgabe darstellen. Simone betrachtet eine solche Existenz als sinnlos. Selbst dem Kinderkriegen kann sie nichts abgewinnen.
Dies alles bedeutet für sie, in einem Kreislauf gefangen zu sein, in dem sich alles wiederholt, ohne dass irgendwann etwas
Neues passiert: grenzenlose Langeweile.
Ebenso schlagartig, wie ihr die ausweglose Ödnis des Alltags bewusst wird, verliert die jugendliche Beauvoir den Glauben an
Gott. Der Gott, den Beauvoir vor allem durch die Mutter kennengelernt hat, ist ein vollkommener, allem Irdischen ferner Gott.
In der Pubertät erlebt Beauvoir nun aber gerade die Körperlichkeit, die von der Kirche stiefmütterlich behandelt wird, besonders
intensiv. Sie bemerkt außerdem, dass solch ein emotional und sinnlich gesteigertes Leben etwas Lustvolles ist, und das stürzt
ihre bisherige Weltanschauung in Widersprüche. »Mit einem Male war ich mir klar darüber, dass nichts mich zum Verzicht auf
die irdischen Freuden zu bringen vermögen würde. ›Ich glaubenicht mehr an Gott‹, sagte ich mir ohne allzu großes Erstaunen.« 4 Der Himmel ist leer, Gottes Vollkommenheit lässt Beauvoir an seiner Wirklichkeit zweifeln. Die Absolutheit Gottes ist nicht
zu vereinbaren mit den Dingen, die für seine Geschöpfe Lebendigkeit bedeuten.
Fast im selben Augenblick wird Beauvoir auch die Sterblichkeit des Menschen in seiner ganzen Bedeutung bewusst. Es gibt also
für Beauvoir nun kein überirdisches Wesen mehr, auf das man sich verlassen kann. Jede und jeder muss diese absolute Grenze,
die Tod heißt, akzeptieren. Beide Wahrheiten zusammen bedeuten für die Menschen Einsamkeit und Auf-sich-Gestelltsein, eine
Eigenverantwortung, zu der es keine Alternative gibt. Beauvoir kann diese Erfahrung mit niemandem teilen, selbst Zaza versteht
eine solch radikale Denkweise nicht. Sie selbst kann sich auch durchaus vorstellen, zu heiraten und Kinder zu bekommen.
Zaza ist bei den Streitereien mit den Eltern, den Lehrerinnen und der Schulleitung radikal, Beauvoir ist es, wenn es um ihre
philosophischen Grundüberzeugungen geht. Es erweist sich als unmöglich, mit den Eltern darüber ein Gespräch zu führen, und
Beauvoir zieht es vor, in Elternhaus und Schule nichts von ihrer inneren Zerrissenheit nach außen dringen zu lassen. Sie ist
allein und mit aller Härte auf das gestoßen, was ihr ganzes Leben prägen wird: die Frage, wie der Mensch unter einem leeren
Himmel und mit dem Bewusstsein der Sterblichkeit überleben und dieses Leben
Weitere Kostenlose Bücher