Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
sinnvoll gestalten kann.
An Beauvoirs Alltag ändert sich nichts. Sie tut weiterhin so, als wäre alles beim Alten, geht zur Kommunion, heuchelt Gläubigkeit,
lernt fleißig. Sie lebt ein Doppelleben und leidet darunter, sieht jedoch keine andere Möglichkeit.Ihre Rebellion findet unbemerkt in ihrem Inneren statt. Sie hat den Namen Philosophie. In den fünf Jahren zwischen zwölf und
siebzehn lebt Beauvoir zwei Leben. Sie selbst meint, das Gute und das Wahre seien zwei voneinander getrennte Dinge. Sie will
eine gute Tochter und Schülerin sein und zur gleichen Zeit denkend der Wahrheit auf die Spur kommen.
Als Junge hätte sie es, was die Berufswahl angeht, einfacher. Mädchen sind viele Wege versperrt, ganze Berufsfelder sind tabuisiert,
ihre Lebensbahn ist klar vorgezeichnet. Wäre sie ein Junge, könnte sie nach Meinung der Eltern auf das Polytechnikum zum Studium
gehen, und das wäre das Beste. Aber sie ist nun mal ein Mädchen. Beauvoir hat in gewisser Weise Glück: Ihre Familie kann den
Töchtern keine große Mitgift geben, sodass sie einen Beruf ergreifen müssen, um eigenes Geld zu verdienen.
Zunächst jedoch steht das Abitur bevor, und da Beauvoir es gut machen will, arbeitet sie hart. Die Familie reagiert erstaunt
darauf, dass sie sich vor allem auf die Philosophieprüfung konzentriert. Beauvoir aber lässt sich nicht beirren und äußert
zum ersten Mal ihre Wünsche, ohne Kompromisse einzugehen. »An der Philosophie zog mich vor allem an, dass sie meiner Meinung
nach unmittelbar auf das Wesentliche ging. Ich hatte mich nie für Einzelheiten interessiert; ich nahm den globalen Sinn der
Dinge weit eher als ihre Besonderheiten in mich auf; ich begriff lieber, als dass ich sah; immer hatte ich
alles
erkennen wollen: die Philosophie würde mir möglich machen, dieses mein Verlangen zu erfüllen, denn die Gesamtheit des Wirklichen
war das Ziel, das ich im Auge hatte ...« 5
Beauvoirs Überzeugungskraft reicht jedoch nicht, die Familie für ein Philosophiestudium zu begeistern. So beginnt sie 1925
am katholischen Institut Sainte-Marie in Neuilly alte Sprachen und Mathematik zu studieren. Am Ende des Semesters legt sie
eine Prüfung in Mathematik und Latein ab. Aber es ist ihr unvorstellbar, sich ein Leben lang mit alten Sprachen zu beschäftigen.
Den Eltern macht die Niedergeschlagenheit ihrer Tochter Sorgen, und so willigen sie endlich ein: Zum Sommersemester 1926 kann
sich Beauvoir an der Sorbonne einschreiben, mit dem Ziel, Philosophielehrerin an einem Gymnasium zu werden.
Noch immer ist sie zu einem großen Teil in ihrem alten Leben gefangen, spielt die brave Tochter und traut sich wenige Eskapaden.
Einige Male bricht sie aus, zieht durch die Nachtlokale von Montparnasse, aber das sind Ausnahmemomente. Die einzigen Exzesse,
die Beauvoir zulässt, sind diejenigen am Schreibtisch, wenn sie intensiv arbeitet. Auf ihr Aussehen legt sie keinen Wert,
sitzt mit einem Buch am Esstisch, spricht nicht viel und wirkt auf die anderen wie eine Eigenbrötlerin. Ihre einzige Freundin
ist weiterhin Zaza, mit der sie Griechisch lernt, Ausflüge macht und Theateraufführungen besucht. Das Gefühl der Einsamkeit
aber ist sehr stark, und Beauvoir hat das Gefühl, von niemandem wirklich geliebt und verstanden zu werden.
Sie beginnt mit ihrer Diplomarbeit über Leibniz (1646 – 1716). Dass sie sich diesen Philosophen aussucht, ist sicher kein Zufall. Leibniz geht davon aus, dass der Mensch zwar in
der besten aller möglichen Welten lebt, lässt aber dennoch der Freiheit einen weiten Raum. Die Freiheit zeichne den Menschen
wesensmäßig aus, er sei zur Freiheitgeboren. Beauvoir, unter großen Zwängen aufgewachsen, träumt seit ihrer Jugend von einem auch äußerlich unabhängigen Leben.
Dass Leibniz der Vielfalt an Möglichkeiten und dem Willen zu deren Durchsetzung eine solch große Bedeutung zumisst, fasziniert
sie.
1928, nach der Beendigung der Diplomarbeit, hat sie eine Probezeit als Lehramtskandidatin zu absolvieren und bereitet sich
gleichzeitig auf die schwerste Prüfung vor: die Agrégation in Philosophie an der Sorbonne. Nur die besten StudentInnen bestehen,
aber zu diesen will Beauvoir ja gehören. Sie verbringt täglich neun bis zehn Stunden über ihren Büchern. Daneben hat sie lockere
Kontakte zu einigen Kommilitonen, schreibt ihrem Cousin Jacques, in den sie eine Zeitlang sogar glaubt, verliebt zu sein,
und beobachtet von Ferne einen Kreis
Weitere Kostenlose Bücher