Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
von Außenseitern, der sie mehr und mehr zu interessieren beginnt und von denen der berüchtigtste
Jean-Paul Sartre heißt. Sein Ruf ist schlecht, es wird sogar erzählt, er trinke. Die Gruppe kleidet und benimmt sich betont
antibourgeois und bewirft gutbürgerlich gekleidete
normaliens
mit Wasserbomben.
Zu einem Studenten aus der Gruppe bekommt Beauvoir näheren Kontakt. Er heißt Herbaud, ist verheiratet und hält ab und zu ironische
Vorträge über verschiedene Frauen aus Kultur und Politik. Außerdem lebt er das Leben eines freien Mannes, tut, was er will,
nimmt sich vor, Altern und Tod nicht einfach zu akzeptieren, und sieht zudem sehr gut aus. Es ist der erste Mann, den Beauvoir
auch körperlich anziehend findet. Sie hat es langsam satt, immer nur »reiner Geist« zu sein. Während der gesamten Prüfungsvorbereitungszeit
trifft sie sich mit Herbaud, plaudert mit ihm, geht ab und zu essen mit ihm. »Er gefiel mirmehr und mehr, und das Angenehme war, dass ich mir dank ihm auch selbst gefiel.« 6
Beauvoir entdeckt beispielsweise, dass sie einen bestimmten Gang hat, dass ihre Stimme rau ist, und das alles nur, weil ein
anderer sie darauf aufmerksam macht.
Mit Herbaud spricht sie über die Erfahrung eines zeitweiligen Berauschtseins durch die Empfindung der puren Existenz. Die
Tatsache, zu sein, sich zu wundern darüber, dass man ist, um irgendwann einmal nicht mehr zu sein – wo anders als hier läge
die Ausgangssituation für das philosophische Denken! Der Philosoph Albert Camus, den Beauvoir noch kennen lernen wird, spricht
davon, wie einen irgendwo, sei es im Bus, auf der Straße oder an jedem anderen beliebigen Ort das Staunen über das eigene
Lebendigsein überkommen kann. Beauvoir erlebt solche Momente besonders intensiv. Seit sie Herbaud begegnet ist, hat sie ein
Gefühl für ihren Körper entwickelt, ist nicht mehr nur Denkerin. Das bisher Verdrängte darf nun an die Oberfläche gelangen.
Bei einem Treffen mit Herbaud lernt Beauvoir Sartre kennen. Auch er bereitet sich auf die Agrégation in Philosophie vor, allerdings
schon zum zweiten Mal. Er vereinbart ein Treffen mit Beauvoir, womit Herbaud allerdings ganz und gar nicht einverstanden ist.
Sartre ist bekannt dafür, die Leute in seinem Umkreis mit Beschlag zu belegen, und Herbaud möchte Beauvoir für sich behalten.
Poupette wird angeheuert, geht zu einem mit Sartre vereinbarten Treffen und tischt ihm eine wohl vorbereitete Ausrede auf.
So leicht kommt Beauvoir jedoch nicht davon, und im Juli 1929 ist es so weit: Sie nimmt eine Einladung Sartres anund betritt zum ersten Mal sein Zimmer, in dem ein unsägliches Durcheinander herrscht. Nizan und Herbaud sind dabei und man
bereitet sich in den folgenden Tagen gemeinsam auf die mündliche Prüfung vor. Sartre ist vom ersten Moment an sehr angetan
von Beauvoir und äußert sich später fachmännisch über ihre Ausstrahlung: »Hübsch, aber scheußlich angezogen.« 7 Der vierundzwanzigjährige Sartre fasziniert seine Freunde durch sein immenses Wissen. Eigentlich redet die ganze Zeit nur
er, von einigen kleinen Versuchen Beauvoirs, auch einmal zu Wort zu kommen, abgesehen.
Das Quartett verbringt den größten Teil seiner Freizeit zusammen. Auf diversen Vergnügungstouren ist Beauvoir hartem Tobak
ausgesetzt. Die Bürgertochter hört ungewohnte Töne, die zynischen, aggressiven und kategorischen Gedanken entspringen. Die
drei Studenten beschönigen nichts, Glaube, Liebe und Hoffnung betreffen für sie überholte Lebensvorstellungen, was zählt,
ist der klar analysierende Verstand, der dazu dient, gesellschaftliche Heucheleien zu entlarven.
Herbaud besteht als Einziger von den vieren die schriftliche Prüfung nicht und verlässt Paris. »›Von jetzt an werde ich mich
um Sie kümmern‹, erklärte mir Sartre.« 8 In der nun folgenden Zeit sind die beiden unzertrennlich.
Sartre ist ein Mensch, den man als eine Art Dauerdenker bezeichnen könnte. Er überflügelt Beauvoir im Bestreben, alles zu
verstehen, ins Ganze einzuordnen. Sie erfährt, dass sie unter ihren Freunden nicht die Einzige ist, die philosophiert, und
dass es ihr noch entschieden an Methode mangelt, das Chaos im Kopf in eine Ordnung zu bringen. Die Themen sind dieselben,
die Radikalität des Denkens aber ist bei Sartre und seinen Freunden sehrviel stärker ausgebildet. »Alle aber hatten weit radikaler als ich die Folgerungen aus der Nichtexistenz Gottes gezogen und
die Philosophie aus
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