Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
gibt es nur eine einzige
Lösung, nämlich weiterhin Ziele zu verfolgen, die unserem Leben Sinn verleihen.« 23 Auch in der schwierigen Phase des Altwerdens hilft die Philosophie: Man darf niemals aufhören, neue Entwürfe zu wagen, Engagement
für die unterschiedlichsten Dinge zu zeigen. Weiterhin gilt für sie, die Verwirklichung des Ich mit dem Leben in der Gemeinschaft
in Einklang zu bringen, immer im Bewusstsein, selbst zu den Privilegierten zu gehören.
Eine gewaltige Herausforderung steht Beauvoir noch bevor: Sartre erleidet 1971 einen Schlaganfall und kommt von da an bis
zu seinem Tod neun Jahre später nie mehr richtig auf die Beine. Beauvoir übernimmt seine Pflege und muss den körperlichen
und geistigen Verfall ihres Lebenspartners täglich mitansehen. Aber auch diese Grenzerfahrungbleibt nicht unbeschrieben, und es entsteht ein neues Buch:
Die Zeremonie des Abschieds.
Die Autorin ist darin sehr offen und ehrlich in ihren Beschreibungen, was man ihr bei Erscheinen des Werkes vorwirft. Viele
LeserInnen finden es peinlich, in das Sterben eines »großen Mannes« Einblicke zu erhalten. Der Tod ist eine schmutzige Sache,
die man am besten verdrängt, so will es die breite Allgemeinheit, die meisten Intellektuellen nicht ausgeschlossen.
Weitere kreative Vorhaben hat Beauvoir nicht mehr. Nach Sartres Tod lebt sie mit Sylvie Le Bon, einer jungen Philosophiestudentin,
zusammen. Kontakte hat sie vor allem auch zu feministischen Organisationen in der ganzen Welt.
Während die feministische und im weitesten Sinn politische Arbeit charakteristisch ist für Beauvoirs späte Jahre, fielen existenzielle
philosophische Grunderfahrungen vor allem in die Jugendzeit. Schon sehr früh hat Beauvoir zu ihrer denkerischen Position gefunden.
Im Mittelpunkt stand für sie stets die Bedeutung des Ich als ein in die Zukunft gerichtetes und sich immer wieder neu entwerfendes.
»Ich bin nicht, ich werde«, so könnte man ihren philosophischen Ansatz zusammenfassen. Es gibt kein unveränderliches Wesen
des Menschen. In jedem neuen Akt des Entwurfs entsteht das Ich, schafft es sich seinen Sinn.
In Beauvoirs Philosophie gibt es keinen Gott, der auf unser Leben einwirkt, der uns mit einem unveränderlichen Kern geschaffen
hat. Wir Menschen sind einsam, sobald wir ein Bewusstsein von uns selbst haben, und von da an haben wir zwei Möglichkeiten:
entweder gleich wieder zu sterben oder unser Menschsein zu ergreifen und etwas daraus zu machen. Dazu gehört nach der Erfahrungdes Zweiten Weltkrieges für Beauvoir vor allem auch das Zugehen auf die anderen Menschen. Von einer sehr privaten Philosophin
hat sie sich weiterentwickelt hin zu einer Theoretikerin des Handelns. Aus der Einsamkeit heraus entwirft sich der Mensch
auf die anderen hin, so lautet einer ihrer Grundgedanken.
Die besondere philosophische Leistung Beauvoirs war es, den Existenzialismus immer wieder mit der Alltagsrealität zu konfrontieren
und den Blick vor allem auch auf »das andere Geschlecht« zu richten.
Als Simone de Beauvoir am 14. April 1986 stirbt, nehmen unzählige Menschen aus der ganzen Welt, vor allem Frauen, an ihrem Begräbnis teil.
IM MAI 1942, EIN JAHRVOR IHREM TOD, schreibt Simone Weil in einem Brief an ihren geistlichen Freund Pater Perrin über ein
Schlüsselerlebnis aus ihrer Jugend: »Mit vierzehn Jahren verfiel ich eine jener grundlosen Verzweiflungen des Jugendalters,
und ich wünschte ernstlich zu sterben, wegen der Mittelmäßigkeit meiner natürlichen Fähigkeiten ... Nicht dies schmerzte mich, dass ich auf äußerliche Erfolge verzichten sollte, sondern dass ich niemals hoffen durfte,
den Zugang zu jenem transzendenten Reich zu finden, zu dem einzig die echten großen Menschen Zutritt haben und in dem die
Wahrheit wohnt. Ich wollte lieber sterben, als ohne sie zu leben. Nach Monaten innerer Verfinsterung empfing ich plötzlich
und für immer die Gewissheit, dass jedes beliebige menschliche Wesen, selbst wenn es so gut wie keine natürlichen Fähigkeiten
besitzt, in dieses dem Genie vorbehaltene Reich der Wahrheit eindringt, sobald es nur die Wahrheit begehrt und seine Aufmerksamkeit
in unaufhörlicher Bemühung auf die Erreichung gerichtet hält.« 1
Zwischen diesem Erlebnis und den Zeilen an Pater Perrin liegt in der Tat eine lange Zeit unaufhörlicher Wahrheitssuche. Dass
Simone Weil in eine solch tiefe Verzweiflung geraten konnte, ist bezeichnend für ihr Wesen.
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