Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
unerhörten Schönheit der Gesänge und Worte eine reine und vollkommene
Freude zu finden. Diese Erfahrung hat mich auch durch Analogie besser verstehen lassen, wie es möglich sei, die göttliche
Liebe durch das Unglück hindurch zu lieben. Ich brauche nicht eigens hinzuzufügen, dass im Verlauf dieser Gottesdienste der
Gedanke an die Passion Christi ein für alle Mal in mich Eingang fand.« 18
Simone Weil ist zur Mystikerin geworden. Der starke körperliche Schmerz, den sie immer wieder auszuhalten hat, eröffnet ihr
einen persönlichen Zugang zu Christus und den Qualen, die er am Kreuz erduldete. Ihr bisheriger Lebenslauf, der gekennzeichnet
war durch Selbstverzicht,Sorge um die Mitmenschen, konsequente Suche nach Wahrheit, scheint sie im Grunde prädestiniert zu haben für eine solch extreme
Erfahrung. Ihre Philosophie tendiert immer stärker in Richtung Verwandlung des inneren Menschen. Genau eine solche Verwandlung
erlebt sie selbst.
Man könnte vielleicht erwarten, dass Simone Weil nun ein Leben in Beschaulichkeit beginnt, etwa ins Kloster geht und den weltlichen
Dingen abschwört. Das tut sie aber gerade nicht. Die Zeit scheint ihr derart aus den Fugen zu sein, so viel Ungeheuerliches
passiert, Krieg, Vertreibung, Rassismus, dass eine für die politische Analyse derart begabte und noch dazu persönlich interessierte
Frau sich nicht einfach zurückziehen kann. Auch hat ihre mystische Erfahrung einen starken Bezug zu ihrem sozialen Engagement:
Sie erlebt Christus als Leidenden, als einen, der Schmerzen zu ertragen hat. Damit stellt er sich auf die gleiche Stufe wie
die Schwachen, denen seit jeher Weils ganze Zuwendung gilt. Philosophie und existenzielle Erfahrung sind nun zu einer Einheit
zusammengeschmolzen.
Da die Kopfschmerzen nun schon das ganze Jahr über andauern, hat Weil Angst, an einem Tumor zu leiden, und konsultiert mehrere
Ärzte, von denen jedoch keiner eine konkrete Diagnose stellen kann. Es ist kaum zu glauben, dass die Frau in diesem elenden
Zustand unzählige Bände kompliziertester Literatur liest: Herodot, Plutarch, Tacitus und andere. Außerdem beschäftigt sie
sich intensiv mit dem Alten Testament, das ihr jedoch wenig zusagt, weil ihr der alttestamentarische Gott zu mächtig erscheint.
Sie bezeichnet ihn als »Gott der Heerscharen«, der ihrer Meinung nach allzu irdische Züge trägt. Weils Gott hingegenist zwar auch mächtig, hat aber dieser Macht entsagt, um sich in Christus mit den Schwachen zu identifizieren. Nachdem er
die Menschen erschaffen hatte, überließ er sie sich selbst. Er greift nicht persönlich ein, will aber auch keinen blinden
Gehorsam. Die Menschen sind in die Freiheit entlassen und müssen selbst erkennen, was gut ist und was schlecht.
Als der Zweite Weltkrieg beginnt, denkt Simone Weil darüber nach, wie man Deutschland zu einer Kehrtwende zwingen könnte.
Das Thema Krieg und Frieden bleibt zentral. Sie geht aber in ihrer philosophischen Fragestellung über die konkrete Situation
hinaus und betrachtet diese Problematik allgemeiner: Wie steht es mit dem Unglück als solchem, welche Rolle könnte die Erfahrung
von Unglück für das Leben des Einzelnen bedeuten? Sie kommt der Erkenntnis immer näher, dass Unglück und Leid die einzige
Möglichkeit für den Menschen sind, Gottes Liebe zu erfahren. Nahrung für ihr Denken findet sie nicht nur in der Bibel, sondern
auch in anderen religiösen Schriften, so zum Beispiel in der Bhagavadgita, einem indischen Gedicht, aufgebaut in der Form
eines Dialogs zwischen dem Gott Krishna und Arjuna. Es geht darum, ob Arjuna gegen seine Brüder in den Krieg ziehen soll.
Krishna ist dafür, meint aber, er solle zusehen, dass sein Inneres nicht berührt werde von seinem Tun.
Weil steht im gleichen Zwiespalt wie Arjuna: Soll sie für den Krieg gegen Hitler sein oder nicht? Immerhin weiß sie, dass
er viele unschuldige Menschen das Leben kosten würde. Wie kann man sich einsetzen für etwas, das vielleicht mit Gewalt verbunden
ist, ohne sein Inneres zu belasten? Simone Weil ist der Meinung, der Mensch solltesich niemals ganz und gar in etwas hineinziehen lassen. Ein Rest, nämlich das kostbarste Innere, sollte unbelastet, in gewisser
Weise »rein« bleiben. Denken und Handeln können nicht immer in einem harmonischen Miteinander agieren. Handelt man, so muss
man sich entscheiden. Man kann nicht ewig zaudern, sonst kommt man nie dazu, zu handeln. Widerspruch und
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