Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
Fragen der Gewerkschaftsbewegung geht. Sie beschäftigt
sich aber auch mit Musik und Kunst. Vor allem Monteverdi, Bach, Mozart und gregorianische Gesänge hört sie gern. Sie bevorzugt
eine Musik, die nicht so gewaltig tönt. Wagner zum Beispiel ist ihr fremd. Sie vergleicht die Musik mit der Politik, aber
wie hier ist auch in der Kunst, der Mathematik und der Philosophie ein Ausgleich der Kräfte und Spannungen der Idealfall.
Als Weil im April 1937 die erste Reise nach Italien unternimmt, bekommt diese Einstellung neue Nahrung. Sie reist allein und
genießt die Eindrücke mit allen Sinnen, kann sich über die Natur- und Kunstschönheiten Italiens freuen. Sie hört sich Opern
an wie zum Beispiel
Der Liebestrank
von Donizetti,
Aida
von Verdi und
Die Hochzeit des Figaro
von Mozart. Den intensivsten Eindruck hinterlässt aber Leonardo Da Vincis Gemälde
Das Abendmahl
in Florenz. Diese Stadt hat es ihr besonders angetan: »Was Florenz angeht, so ist es meine eigene Stadt. Unter seinen Ölbäumen
muss ich ein früheres Leben verbracht haben. Sobald ich die schönen Brücken über den Arno sah, fragte ich mich, wie ich so
lange hatte fortbleiben können. Und Florenz wunderte sich ohne Zweifel ebenfalls, weil Städte es lieben, geliebt zu werden.
Es gibt noch viele schöne Dinge hier, die ich nicht gesehen habe; es ist nämlich nicht meine Gewohnheit, Städte zu besichtigen,
ich lasse sie in mich einsickern durch Osmose.« 17 Simone Weil wird sich nicht untreu, aber sie wehrt sich nicht wie sonst gegen den puren Genuss. Sie akzeptiert den lustvollen
Anteil an der Erkenntnis und vergisst den schmerzvollen für eine Weile.
In Assisi schließlich hat sie die zweite intensive Begegnung mit Gott. In der Stille einer Kapelle fühlt sie den Wunsch niederzuknien,
zum ersten Mal in ihrem Leben, wie sie selbst betont. Die tagelange Betrachtung der Kunstschätze Italiens, das Hören von Musik
hat Weil auf diese Form der Andacht vorbereitet. Sie erlebt Gott als etwas Großes, das einen zwingt, auf die Knie zu sinken.
Dieselbe Andacht spürt sie vor den Gemälden und Bauwerken und beim Musikhören.
Simone Weil nimmt ihre Tätigkeit als Lehrerin wieder auf und hat das Glück, für das Schuljahr 1937 / 38 nach Saint-Quentin zu kommen, einer Stadt nicht weit von Paris entfernt und mit einem hohen Arbeiteranteil. Eine Wunschstelle
also. Trotz der vielen Versetzungen wird sie hier sofort eingestellt. Ihre Unterrichtsweise hat sich nicht geändert. Noch
weniger als sonst besteht ihr Philosophieunterricht im Auswendiglernen philosophischer Merksätze. Stattdessen sollen ihre
Schülerinnen häufig eigene Gedanken zu von der Lehrerin ausgewählten literarischen Texten niederschreiben. Der Essay ist ihre
bevorzugte Gattung, weil er eine offene, undogmatische, assoziative Art des Denkens zulässt. Da kann beispielsweise ein Zitat
aus einem Roman von Balzac als Ausgangspunkt für weitreichende Gedanken dienen. Auch sollte nicht wild spekuliert, sondern
klar argumentiert werden. Wird einmal ein Philosoph herangezogen, so ist es zumeist Platon, der keine allzu abstrakten Abhandlungen
geschrieben hat. Simone Weil zieht ein bildhaftes Denken vor.
Nebenher schreibt sie weiterhin politische Artikel. Die Frage, ob eine Revolution im marxistischen Sinn wirklich die Gesellschaft
verändern könnte, beschäftigt sie noch immer. Sie kommt zu dem Schluss, dass man Abstandnehmen muss von der utopischen Vorstellung eines Umsturzes. Sie glaubt nicht daran, dass die Arbeiter in der Lage sein werden,
Träger einer Revolution zu sein. Der langsame Weg scheint ihr realistischer. Ihre Philosophie ist eine Mischung aus Idealismus
und Realismus und sie arbeitet ständig an ihrem Weltbild. Weils Philosophie entwickelt sich im Gespräch mit der Wirklichkeit,
im Abwägen all dessen, was sie beobachtet und womit sie sich auseinandersetzt.
Inzwischen nimmt das Kopfweh wieder unerträgliche Formen an, sodass sich Simone Weil Mitte Januar 1938 vom Schuldienst beurlauben
lassen muss. Sie fährt mit ihrer Mutter über Ostern nach Nordfrankreich in die Benediktinerabtei Solesmes, wo sie allen Gottesdiensten
beiwohnt und täglich gregorianische Gesänge hört. »Ich hatte bohrende Kopfschmerzen; jeder Ton schmerzte mich wie ein Schlag;
und da erlaubte mir eine äußerste Anstrengung der Aufmerksamkeit, aus diesem elenden Fleisch herauszutreten, es in seinen
Winkel hingekauert allein leiden zu lassen und in der
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