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Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben

Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben

Titel: Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingeborg Gleichauf
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Unvollkommenheiten
     machen also unser tägliches Leben aus. Gott bleibt in der Ferne, mischt nicht mit. Christus jedoch nimmt eine Mittelstellung
     ein und stellt eine neue Art der Nähe zu Gott her. Dies aber wird erst dann möglich, wenn man sich aus dem Getriebe zurückzieht,
     das Unglück als solches akzeptiert und auf diese Weise frei wird für die direkte Gotteserfahrung.
    Simone Weils Vorstellungen sind nicht auf den ersten Blick nachzuvollziehen. Es zeigt sich immer von Neuem, dass sie nicht
     nach Wissen strebt, sondern danach, ihr Inneres für die Begegnung mit Gott bereitzumachen. Daneben aber scheut sie sich nicht,
     direkt einzugreifen, in einem engen Praxisbezug zu bleiben. So arbeitet sie seit 1940 am
Projekt einer Formation von Frontkrankenschwestern.
Weil ist der Meinung, Hitler verleite die Menschen zu einer Art »Götzenverehrung«, indem er ihnen den Glauben an ein imaginäres
     Heldentum einrede. Dem möchte sie etwas entgegensetzen, das aus »echter Inspiration« entsteht.
    In diesem Zusammenhang wird auch Weils Frauenbild deutlicher erkennbar: »Frauen laufen immer Gefahr zu stören, wenn sie nicht
     ein gewisses Maß an kaltblütiger und männlicher Entscheidungskraft mitbringen, die sie davon abhält, sich, unter welchen Bedingungen
     auch immer, für jemand Wichtiges zu halten. Diese kaltblütigeEntscheidungskraft verbunden mit der Zärtlichkeit, die die Hilfestellung bei den Leiden und Todeskämpfen erfordert, findet
     sich selten in ein und demselben menschlichen Wesen. Aber, obgleich selten, ist dies nicht unauffindbar.« 19 Dass Simone Weil ein hohes Maß an Entschlusskraft und Härte an den Tag legen kann, hat sich bisher zur Genüge gezeigt. Was
     sie will, setzt sie in Gang. Ein starker Wille ist ihre herausragende Charaktereigenschaft.
     
    Am 10.   Mai 1940 wird es für die Franzosen ernst: Nazideutschland greift die Niederlande, Belgien und Luxemburg an. Natürlich will
     Weil zunächst nicht fliehen. Ihre Eltern bestehen jedoch darauf, Paris gemeinsam zu verlassen. Ihr Ziel ist die unbesetzte
     Zone und sie gelangen nach Vichy. Auf dem Weg dorthin gewöhnt Weil es sich an, auf dem Fußboden zu schlafen. Bis zu ihrem
     Tod wird sie diese Gewohnheit beibehalten.
    Simone Weil ist der Meinung, dass Frankreich mit Deutschland nie hätte einen Waffenstillstand aushandeln dürfen. Sie hat vor,
     nach England zu gehen, um sich dort den französischen Antifaschisten anzuschließen. Eine direkte Einreise ist jedoch nicht
     möglich. So begibt sie sich mit ihren Eltern nach Marseille, wo sich noch viele andere Ausreisewillige aufhalten. Sie stellt
     einen Antrag auf Ausreise nach Algerien und möchte dort als Lehrerin angestellt werden, was ihr jedoch nicht bewilligt wird.
     Die Ablehnung, so vermutet sie, hat etwas damit zu tun, dass sie Jüdin ist. Simone Weil kann das nicht nachvollziehen, denn
     sie hat keinen großen Bezug zum Judentum. Nie hat sie eine jüdische Synagoge betreten und auch nie an einem jüdischen Gottesdienst
     teilgenommen. Diese Einstellung erscheint allerdings ziemlich naiv. Offenbar wird ihr nichtwirklich bewusst, was Antisemitismus bedeutet und dass es dabei keine Rolle spielt, ob man seinen Glauben praktiziert oder
     nicht.
    In Marseille schreibt Weil Zeitungsartikel und betätigt sich sozial. Zum Beispiel verschenkt sie Lebensmittelkarten, was die
     Frage aufwirft, ob sie die Idee hat, sich aufzuopfern, denn sie gönnt sich nicht einmal das Nötigste an Nahrung und gestaltet
     ihr Leben immer asketischer.
    Weil besucht ein Treffen der
Jeunesse ouvrière chrétienne
(der Christlichen Arbeiterjugend), ist sehr angetan von dieser Gemeinschaft und schreibt für die
Cahiers du Sud
einen Artikel darüber: »Diese kleinen Jungen haben gespürt, dass die Materie selbst, über das wirtschaftliche System und die
     Chefs hinaus, sie niederdrückt, sie jeden Tag beugt. In der Fabrik drückt die Materie ohne Unterlass die Körper und die Gedanken
     nieder und zwingt fast unausweichlich dazu, abzusteigen. Sie sind mehr als andere der Materie unterworfen; aber sobald sie
     sich ihrer selbst bewusst werden, spüren sie mehr als andere, dass sie ihr unterworfen sind.« 20 Intellekt und Materie sind in Weils Denken Kontrahenten. Die Materie beugt den Menschen, der Geist führt ihn zum Bewusstsein
     seiner selbst.
    Im Mai 1941 veröffentlicht Simone Weil in derselben Zeitschrift, dem wichtigsten Organ der freien Zone, einen Artikel mit
     dem Titel
La Philosophie.
Als

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