Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
Bruttosozialprodukt ist ein
Indikator dafür, wie es den Menschen geht, sondern all die Fähigkeiten, die Nussbaum als typisch für das menschliche Leben
aufgezählt hat. Dabei darf nicht gerechnet werden auf das, was Menschen subjektiv als für sie wertvoll bezeichnen. Es gibt
in verschiedenen Ländern Frauen, die nicht für ein Arbeitsleben außer Haus kämpfen würden, es käme ihnen einfach nicht in
den Sinn. Außerdem legen arme Bevölkerungsgruppenandere Maßstäbe an den Lebensstandard als die Vermögenden. Ein Reicher empfindet viel schneller einen Mangel als ein Armer.
Es klingt merkwürdig, wenn man die Frage stellt, ob eine Frau auch ein Mensch sei. Und doch, wenn man Martha Nussbaums Liste
der menschlichen Fähigkeiten anschaut, drängt sich genau diese Frage auf. Denn wie lange war es nicht so, dass die Frauen
viele ihrer Fähigkeiten weder entwickeln noch ausleben konnten, und in vielen Kulturen ist es noch heute so.
Vor allem betrifft das die Rationalität, die normalerweise jedem Menschen zugesprochen wird. Wie viele »große« Philosophen,
darunter Aristoteles und Rousseau, waren der Meinung, Frauen hätten keinen Verstand? Dennoch gibt es auch andere Beispiele.
Nussbaum führt den römischen Stoiker Musonius an, der im ersten Jahrhundert nach Christus gelebt hat und die Forderung aufstellte,
auch Frauen zu philosophischen Studien zu animieren, da auch sie einer höheren Bildung fähig seien. Damit ist der Auftrag
an die Gesellschaft verbunden, Frauen wie Männern die Möglichkeit zu geben, in ihnen schlummernde Fähigkeiten auszubilden.
Genau diese Position vertritt auch Martha Nussbaum. Sie betont, es sei unsinnig, die Bereiche zu trennen, in denen Männer
und Frauen tätig sein können. Die Gesellschaft »muß danach streben, in jedem einzelnen Menschen die volle Bandbreite menschlicher
Fähigkeiten zu entwickeln«. 19 Wenn man davon ausgeht, dass Männer vorwiegend auf rationales Verhalten hin erzogen und Frauen in ihrer Emotionalität gefördert
werden, so hieße es im Unterschied dazu bei Martha Nussbaum, diese beiden Grundfähigkeiten des Menschen seien bei beiden Geschlechtern
gleichermaßen auszubilden. Dies wäre inNussbaums Sinn als gerecht zu bezeichnen. Geschieht es nicht, so kann von einem Gerechtigkeitsproblem innerhalb einer Gesellschaft
gesprochen werden.
Martha Nussbaums großes Interesse für eine gerechte Gesellschaft zeigt sich auch in den vielen direkten Äußerungen zu aktuellen
Problemen und Fragen. So hat sie in der Zeitschrift
Le Monde diplomatique
vom 15. 3. 2002 über den Anschlag vom 11. September 2001 und die Reaktion der USA einen Essay veröffentlicht. Die Menschen, die bei diesem Anschlag starben, kamen aus
verschiedenen Ländern, es waren unterschiedliche Rassen darunter und die Leute hatten alle möglichen Berufe. Mit all diesen
Toten und ihren Angehörigen hatten die Amerikaner Mitgefühl und sie äußerten es auch. »Mitgefühl beginnt im lokalen Umfeld.
Aber wenn wir unsere moralischen und unsere emotionalen Strukturen irgendwie stimmig machen wollen, müssen wir unsere starken
Emotionen und die Fähigkeit, die Lage anderer Menschen nachzufühlen, in einer größeren Umgebung wirksam werden lassen. Wir
müssen also Mittel und Wege finden, dieses Mitgefühl auf die Gesamtheit des menschlichen Lebens auszudehnen.« 20 Genau damit aber hätten die Amerikaner ein Problem, sagt Nussbaum. Ihr Denken und Fühlen sei sehr stark auf ihr eigenes Land
beschränkt und dies hänge natürlich vor allem auch mit der Größe und der Macht der USA zusammen. Sie sieht aber im 11. September die große Chance, den ethischen Horizont auszuweiten, über das eigene Land hinaus. »Indem wir erkennen, wie verwundbar
unser riesiges Land ist, können wir etwas über die Verwundbarkeit lernen, die allen Menschen gemeinsam ist.« 21
Sie hält es für unheimlich wichtig, dass auch in der Erziehung und in den Medien darauf geachtet wird, dass die Sensibilität
für allgemein menschliches Glück und Unglück geschärft wird, ohne dass man auf patriotische Gefühle verzichten muss. Martha
Nussbaum denkt global, indem sie allen Menschen die gleichen Fähigkeiten zuschreibt. Indem einzelne Nationen über den eigenen
Tellerrand schauen, merken sie, dass sie verbunden sind mit Menschen weltweit, weil alle im Grunde das Gleiche wollen, die
gleichen Bedürfnisse haben.
Ein anderes brennend aktuelles Thema hat Martha
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