Denken hilft zwar, nutzt aber nichts
Stadt spöttisch die »Volksrepublik Berkeley«. Dabei tummelt sich auf dem großen Universitätsgelände eine erstaunlich konformistische Population von hochbegabten Studenten. Bei einer 2004 durchgeführten Umfrage unter Erstsemestern betrachteten sich nur 51,2 Prozent der Befragten als linksliberal. Über ein Drittel (36 Prozent) rechneten sich zur gemäßigten Mitte, und 12 Prozent bezeichneten sich als konservativ. Als ich nach Berkeley kam, stellte ich zu meiner Überraschung fest, dass die Studenten im Allgemeinen nicht besonders ausgelassen, rebellisch oder risikofreudig waren.
Auf den Zetteln, die wir rund um die Sproul Plaza aufhängten, stand Folgendes zu lesen: »Gesucht: Männliche Versuchsteilnehmer, heterosexuell, +18 Jahre, für eine Studie über Entscheidungsfindung und Erregung.« Außerdem war vermerkt, dass die Probanden für jede Sitzung etwa eine Stunde Zeit aufwenden müssten, dass sie pro Sitzung ein Honorar von 10 Dollar bekämen und dass bei den Experimenten auch sexuell erregendes Material eingesetzt würde. Interessentensollten sich per E-Mail an unseren wissenschaftlichen Assistenten Mike wenden.
Wir beschlossen, für diese Studie nur Männer zu nehmen. Sie sind, was Sex betrifft, wesentlich einfacher gestrickt als Frauen (zu diesem Schluss gelangten wir nach ausführlicher Diskussion mit unseren Assistenten männlichen wie weiblichen Geschlechts). Viel mehr als ein
Playboy
-Heft und einen abgedunkelten Raum würden wir zur erfolgreichen Durchführung unserer Studie nicht brauchen.
Eine andere Frage war, ob die Sloan School of Management des MIT (wo ich meine Hauptprofessur habe) das Projekt genehmigen würde. Es war eine Nervenprobe. Ehe er die Genehmigung erteilte, berief Dekan Richard Schmalensee einen überwiegend aus weiblichen Mitgliedern bestehenden Ausschuss, der unser Vorhaben prüfen sollte. Dieser Ausschuss äußerte mehrere Bedenken. Was, wenn bei einem Probanden infolge der Experimente verdrängte Erinnerungen an sexuellen Missbrauch hochkamen? Wenn ein Versuchsteilnehmer feststellte, dass er sexsüchtig war? Mir erschienen diese Fragen ungerechtfertigt, denn jeder Collegestudent mit einem Computer und Internetzugang kommt an die härteste Pornographie heran.
Damit hatten wir dem Ausschuss zwar den Wind aus den Segeln genommen, aber ich hatte zum Glück auch noch eine Stelle im MIT Media Laboratory, und dessen Leiter Walter Bender gab mir gerne seine Zustimmung zu dem Projekt. Ich konnte also loslegen. Aber die Erfahrung mit der Sloan School machte deutlich, dass Sex selbst ein halbes Jahrhundert nach Kinsey noch weitgehend ein Tabuthema für eine wissenschaftliche Studie ist – zumindest an manchen Wirtschaftshochschulen.
Jedenfalls wurden unsere Anzeigen aufgehängt, und da Collegestudenten nun mal sind, wie sie sind, hatten wir bald eine lange Liste forscher Burschen, die der Gelegenheit, an unserer Studie teilnehmen zu können, geradezu entgegenfieberten – darunter auch Roy.
Roy war ein typischer Vertreter der 25 Teilnehmer unserer Studie. Er war in San Francisco geboren und aufgewachsen, kultiviert, intelligent, nett – der Traum aller Schwiegermütter. Roy spielte Etüden von Chopin auf dem Klavier und tanzte gerne zu Technomusik. Er hatte an der Highschool Bestnoten gehabt und war Kapitän der Volleyball-Schulauswahl gewesen. Er sympathisierte mit libertären Ideen und wählte meistens die Republikaner. Seit einem Jahr hatte er eine feste Freundin. Er hatte vor, Medizin zu studieren, und besaß eine Schwäche für scharfe »California Roll«-Sushi und die Salate im Café Intermezzo.
Roy traf sich mit Mike, unserem wissenschaftlichen Assistenten, im Strada Coffeeshop – Berkeleys Intellektuellentreffpunkt, wo schon so manche geniale Theorie ausgebrütet wurde, unter anderem die Lösung für Fermats letztes Theorem. Mike war schlank und groß, hatte kurzes Haar, einen künstlerischen Touch und ein gewinnendes Lächeln.
Die beiden schüttelten sich die Hand und setzten sich. »Danke, dass du dich auf unsere Suchanzeige gemeldet hast, Roy«, sagte Mike, zog einige Blätter Papier aus seiner Mappe und legte sie auf den Tisch. »Erst mal die unerlässlichen Präliminarien, Einverständniserklärung und so.«
Mike las Roy die notwendigen Informationen und Vorschriften vor: dass es bei der Studie um Entscheidungsfindung und sexuelle Erregung ging, die Teilnahme freiwillig war, die Daten vertraulich behandelt würden. Dass die Teilnehmer jederzeit den
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