Denken Mit Dem Bauch
echt. Genauer gesagt: Dann entscheidet die Intuition blitzschnell, ob »echt« oder
-145-
»Phantom« günstiger ist.
Dieses Verhalten gilt für alle Selbstdarstellungen, die wir in einer sozialen Gruppe für uns veranstalten oder gar zelebrieren.
Jeder von uns hat seine mehr oder weniger große oder kleine Öffentlichkeit, in der wir unsere mehr oder weniger starke Position beziehen müssen. Ob die Öffentlichkeit nun Familie heißt, also eher klein und überschaubar ist - oder ob es Öffentlichkeit, Firma, Konzern, Verein, Parlament oder Staat sind, spielt keine Rolle. Für die Intuition zählt nur der höchstmögliche Öffentlichkeitsnutzen, denn sie bekommt für die Phantomstory meist ja auch kräftig Anerkennung von außen.
Nach diesem Mechanismus funktioniert auch die Show der unzähligen Selbstdarsteller und Selbstdarstellerinnen, von denen es beispielsweise in der TV-Landschaft nur so wimmelt. Die Regel lautet: Sieh zu, dass du dein Phantom so gut vermarktest, dass es einen Geldnutzen (Bereicherungsnutzen) erzielen kann.
Denn im Kern haben die Betreffenden ja gar nichts anderes anzubieten außer sich selbst und ihre Selbstdarstellung. Deshalb wird bei Bedarf dann auch das Phantom von der beauftragten Agentur für die jeweilige Öffentlichkeit schnell mal neu gestaltet. Und zwar so, dass die Zielgruppe damit gut leben kann. Das nennen wir dann Showerfolg.
Jede Art von Phantomaufbau ist für den Kopf (das Gehirn) großer Stress - für den Bauch nicht. Der Kopf macht beim Phantomlügen solch ein Theater, dass der Bauch den Kopf am liebsten ganz ausblenden möchte. Ständig versuchen die Prüfsysteme des Gehirns zu signalisieren: »He!… Bauch… du bist ein Phantom, ich finde meine Daten nicht mehr… was erzählst du denn da für wilde Geschichten?« Doch der Bauch bleibt dabei ganz cool. Er weiß, dass das Gehirn hier nichts mehr überprüfen kann.
Hierzulande bzw. im nordeuropäischen Bereich bauen wir übrigens tagtäglich um die 110 kleine Phantome von uns auf.
-146-
Immer in der Annahme, dass wir damit einen gewissen,
irgendwie gearteten Nutzen für uns ergattern können.
Glücklicherweise fangen wir »Normalos« mit dem Unsinn
immer wieder neu an. Dadurch bleiben die Phantome klein und nicht sehr wesentlich. Würden wir sie fortschreiben und Tag für Tag systematisch weiterentwickeln (so wie die Profis im Showbiz oder in der Politik), würden wir irgendwann zu einer Fälschung unserer selbst werden.
Gibt es eigentlich noch wahrhaftige Menschen, die sich weigern, ein Phantom aufzubauen?
Ja, die gibt es - aber wenige. Und ob die in einer solch engen, öffentlichen Gesellschaft erfolgreicher wären als die
»Phantome«, wage ich zu bezweifeln. Eher wäre es so, dass sie überall anecken würden und einigermaßen rücksichtslos und erfolglos - durch die verschiedenen Öffentlichkeiten ihrer sozialen Gruppen wandern würden. Mir fällt dazu spontan der Schauspieler Klaus Kinski ein.
Von ihm nehme ich an, dass er sich in den späteren Jahren seiner Karriere nicht mehr im Ansatz die Mühe gemacht hat, in irgendein bequemes, behagliches Phantom zu schlüpfen. Kinski war berüchtigt und berühmt dafür, dass er das »enfant terrible«
in allen Lebenslagen war. Kinski sei der »großmäuligste, widerlichste, unangepassteste, arroganteste, unverschämteste Drecksack«, den er je erlebt habe, sagte einer seiner Regisseure in einem Interview. Aber er war auch einer der erfolgreichsten deutschen Schauspieler aller Zeiten. Dass alle, die mit ihm arbeiteten, bei den Dreharbeiten fast wahnsinnig wurden, war das Problem der anderen - nicht das von Kinski. Es interessierte ihn nicht, nicht einmal im Ansatz. Er brauchte kein Phantom.
Bei den Dreharbeiten zu dem Film Aguirre, der Zorn Gottes musste drei Mal das gesamte Aufnahmeteam ausgewechselt werden, weil vom Kabelträger über die Komparsen bis zum Aufnahmeleiter kein Mensch mehr mit Kinski arbeiten wollte.
Lieber arbeitslos als Kinskis asoziale Wahrhaftigkeit weiter
-147-
aushaken müssen.
Der Mainstream von Kinskis Bauch: extrem dissoziales
Verhalten, extremer Egoismus, extremer Egozentriker, extrem kreativ, extrem unangepasst und so weiter. Der Mann wurde dennoch (oder deshalb?) mehrfacher Millionär, international berühmt und war einer der teuersten Schauspieler der Welt.
Viele Journalisten wetteiferten darin, wer denn wohl in welcher Talkshow von Kinski am meisten verhohnepipelt und
beschimpft werden würde. Das brachte Einschaltquoten.
Weitere Kostenlose Bücher