Denkwürdigkeiten aus meinem Leben [microform]
Behandlung des blinden Fräulein war das allgemeine Stadtgespräch, und ganz
fremde Menschen suchten Zutritt in dem Hause, um sich von dem Wunder zu überzeugen, daß eine Person, welche seit ihrem zweiten oder dritten Lebens-jahre, infolge der zweckwidrigen Behandlung eines Hautübels, das Augenlicht verloren hatte, dies jetzt, nach so vielen Jahren, durch magnetische Einwirkun-gen wieder erhalten sollte haben. ABer weder mein Vater noch meine Mutter kamen gläubiger von diesen Besuchen zurück. — Beide konnten sich nicht über-zeugen, daß Fräulein Paradis wirklich sehe, so manche Probe, so manches Kunststückchen ihr Magnetiseur und Freund sie auch machen ließ; und der Erfolg be-stätigte meiner Eltern Wahrnehmungen'"). Nach eini-gen WocÜen fielen sehr unangenehme Szenen zwischen Mesmer und der Famihe Paradis vor'^), welche damit endigten, daß der erste sie und bald auch Wien verließ, um in Paris seine magnetischen Kureri fortzusetzen'^^)^ und noch viel mehr Aufsehen und Anhänger zu ma-chen als in Wien; die unglückKche Blinde aber in dem Zustande blieb, in welchem sie vor der Kur gewesen. Bald nach dieser Geschichte wurde ein Mann in meiner Eltern Hause eingeführt, der bedeutenden Einfluß auf die Ausbildung und Richtung meines Gei-stes nahm — Herr L. L, Haschka'^), ein damals sehr junger, und, so viel ich mich erinnere, liebenswürdiger Mann, der nun seit ein paar Jahren bei der Aufhebung des Jesuitenordens, dessen Mitghed er gewesen, wieder in die Welt getreten, und den geisthchen Stand, da er keine Profeß abgelegt, völlig verlassen hatte. Mit ihm zogen, möchte ich sagen, die Musen in unser Haus, und meines Vaters Liebe für die schönen Künste kam jener Richtung, welche Haschka in sich trug, gern ent-gegen. Meine Mutter Hebte zwar die Poesie durchaus
nicht, aber sie hörte doch gern gute Gedichte lesen, und erfreute sich daran, wenn Haschka, und auch später an-dere Musensöhne Wiens, die nach und nach mit uns bekannt wurden, ihre Werke bei uns lasen. Haschka bemerkte bald meine günstigen Geistesanlagen, er fing an, sich mit mir abzugeben, er ließ mich Gellertsche Fabeln auswendig lernen (Deklamieren war damals nicht Mode), ich durfte zuhören, wenn neue bedeu-tende Sachen gelesen wurden. Ich fing bereits damals an, die Empfindungen, von denen ich mich entweder wirkhch beseelt fühlte oder die ich nach Willkür in mir hervorzurufen versuchte, zu Papier zu bringen, und, freiHch ohne eigentlichen Begriff von Versen, Rhythmus und Form, so eine Art von Rhapsodie zu schreiben*). Ich weiß, daß das eine dieser Blätter mit den Worten begann: „Die Tage sind dahin, an denen ich mich freute", wie denn überhaupt eine Art von elegischem Gefühl mich, trotz meiner sehr glücklichen Lage und munteren Stimmung, in ein-zelnen AugenbHcken zuweilen übermannte, und mich eine vergangene, schönere Zeit, die meist nur in meiner Einbildung existiert hatte, beklagen ließ. Vermuthch war es die kindische Freiheit und Zwangslosigkeit mei-ner ersten Jahre, welche im Vergleich mit den, nun be-ginnenden ernsteren Beschäftigungen des Lernens, Arbeitens und einer strengen Aufsicht, mir wie ein goldenes Zeitalter erschien, und mir meine Gegenwart in düsterem Lichte zeigte.
Im Herbst 1777 starb meine Großmutter, die lange gekränkelt hatte, wie sie denn überhaupt eine traurige Existenz hatte, und durch einen schlecht geheilten
*) Jene oben Seite 35 angeführten Verse wurden einige Jahre später gemacht.
Beinbruch gelähmt, seit vielen Jahren ihr Leben zwischen ihrem Bett und ihrem Kanapee teilte'*). Sie besaß auch deshalb eine Hauskapelle, in welcher Messe für sie gelesen werden durfte, und eine Kusine meines Vaters, ein bejahrtes, unverheiratetes Fräu-lein, lebte bei ihr und pflegte ihrer'^). Bei dieser Groß-mutter und dieser Tante blühten uns Kindern sehr schöne Stunden; denn hier durften wir uns manches erlauben, was meine Eltern mit Fug und Recht nicht duldeten, und hier erhielten wir auch allerlei Näschereien, die eben zu Hause uns mit-eben so viel Recht nicht gegeben wurden. Den Grund dieses Ver-botes einzusehen, waren wir viel zu jung, ich sieben, der Bruder vier Jahre alt, und wenn wir gleich zu Hause uns nichts weniger als unzufrieden fühlten, be-hagte uns doch jene größere Zwangslosigkeit, die Süßig-keiten, das Spielzeug, welches wir geschenkt erhielten, gar sehr. Diese Großmutter verstand auch Latein, die Tante machte (in größter Stille, denn sie schämte sich dessen) gar nicht
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