Denn am Sabbat sollst du ruhen
Natürlich kann der Therapeut in bestimmten Fällen, bei Krankheiten oder Schwangerschaften, anders entscheiden. Eva war sich unsicher, wieweit sie Beispiele geben sollte, die gewisse Leute in Verlegenheit bringen könnten, und ob solche Beispiele überhaupt zu einer Debatte über den moralischen Aspekt gehören.
Als sie Michaels enttäuschten Blick sah, hielt sie in ihrem Redefluß inne. Sie verglich seine Lage mit der von Patienten, die nach einigen Stunden enttäuscht sind, da dramatische Entwicklungen ausblieben. »Was haben Sie eigentlich gesucht?« fragte sie interessiert.
Er erzählte ihr, daß alle Kopien des Vortrags verschwunden seien und mit ihnen die Liste der Patienten und Kandidaten ebenso wie die Mappe des Steuerberaters. Die Familie habe ihr davon berichtet, als sie nachmittags dort war, sagte sie unbeeindruckt. »Die Kinder sind in einem schrecklichen Zustand, vor allem Nimrod, denn Nava läßt ihrem Schmerz freien Lauf, und ihre Beziehung zu Eva war liebevoll, aber Nimrod hatte schwere Konflikte mit seiner Mutter, und er ist zu zurückhaltend. Aber danach haben Sie nicht gefragt«, entschuldigte sie sich.
Ihre klugen braunen Augen ruhten auf ihm, als er sagte, er habe gehofft, von ihr etwas über den Inhalt des Vortrages zu hören, etwas, das sein Verschwinden erklären könnte, etwas, das auch ein Mordmotiv darstellen könnte.
Ihre Stirn lag in Falten, als sie die ihr bekannten Einzelhei ten wiederholte. Sie habe keine Abschrift des Vortrags, denn sie verstehe kein Hebräisch. »Etwas hat Eva sehr beschäftigt, aber sie wollte sich nicht eingehender darüber äußern. Ich glaube, das Verhalten eines Kandidaten em pörte Eva«, sagte Catherine-Louise nachdenklich. »Sie nannte weder Namen noch Geschlecht, allerdings interessierte sich Eva sehr für einen Vorfall im Pariser Institut: Ein sehr erfahrener Analytiker hatte eine Liebesaffäre mit einer seiner Patientinnen.« Catherine-Louise Dubonnets Gesicht verdüsterte sich, als sie über die Affäre sprach, und für einen Augenblick erlosch das Licht in ihren Augen, dann trank sie einen Schluck Wein und fuhr fort: »Woher wüßten wir mit Sicherheit, fragte mich Eva abends, als ich schon sehr müde war, ob die Patientin die Wahrheit sagte. Ich erzählte ihr, daß ich Beweise verlangt und auch erhalten hätte. Zeugenaussagen über Restaurantbesuche, Hoteleintragungen. Das war eine sehr häßliche Arbeit, aber man muß alles genau prüfen, bevor man einen Analytiker aus der Gesellschaft ausschließt und ihm verbietet, weiter in seinem Beruf zu arbeiten. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das auch mit ihrem Vortrag zu tun hatte. Ich war sehr müde und hatte einen schweren Arbeitstag hinter mir und keinen leichten vor mir – ich stand vor dem Urlaub, Patienten ertragen das schwer, da braucht man seine ganze Energie, und ich bin nicht mehr so jung.« Sie lächelte und fügte sehr traurig hinzu, sie habe natürlich nicht geahnt, daß dies ihre letzte Begegnung mit Eva sein würde. Ihre Augen wurden feucht, als sie wie zu sich sagte, so sei es immer, immer habe man das Gefühl, man habe noch unendlich viel Zeit.
Michael überlegte, daß auch die Auskünfte CatherineLouise Dubonnets wieder darauf hindeuteten, daß einer der Patienten oder Kandidaten in den Fall verwickelt war und daß der Vortrag vermutlich eine Rolle gespielt hatte. Man konnte sagen, daß wir nichts Neues erfahren haben, aber sie bestätigt die Richtung unserer Ermittlungen. Es waren verschiedene Motive denkbar. Aber es wurde ihm immer deutlicher, daß sich jemand vor einer Information fürchtete, die sich in Neidorfs Hand befunden hatte. Ihr Interesse an dem Fall des erfahrenen Analytikers in Paris ließ ihn an Dina Silber denken, aber er hatte nichts als Vermutungen, und er verfluchte im stillen Nachrichtenoffizier Balilati, von dem er bereits seit zehn Tagen nichts mehr gehört hatte.
Die dritte Begegnung mit Catherine-Louise Dubonnet fand am Sonntagmorgen statt und war äußerst formell. Die Französin legte unter Eid eine Zeugenaussage ab und versprach, nach besten Kräften behilflich zu sein. Noch am selben Tag reiste sie ab.
Jeden Morgen richteten sich bei der Lagebesprechung der Sonderkommission alle Augen auf Eli Bachar, der wortlos die Bankabrechnungen weiterreichte, die er tags zuvor durchgesehen hatte. Bachar brauchte zwei ganze Tage und die Unterstützung eines Computerfachmannes der Polizei, bis er alle Bewegungen der letzten zwei Jahre auf Neidorfs Girokonto erfaßt
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