Denn am Sabbat sollst du ruhen
Mitgliedern sicher heitshalber persönlich ausgehändigt und niemals ver schickt. Selbstverständlich verpflichteten sich alle Beteiligten zu strengster Diskretion.
Dem Papierstapel, der sich auf dem Sofa anhäufte, entnahm Michael ein Blatt; die Handschrift darauf war klein und schlecht lesbar. Er betrachtete sie genau und fragte Hildesheimer, ob dies die Handschrift Eva Neidorfs sei. Der Alte bejahte. Das Blatt sei die Bibliographie für den Kurs, den sie im letzten Trimester des Studienjahres am Institut hatte geben wollen. Michael kannte nur einen einzigen Namen auf der Liste, den Freuds.
Nun gab es keine Stelle in dem großen Zimmer mehr, an der sie nach Dokumenten, Namenslisten, Vortragsentwür fen, Notizbüchern oder anderen Informationsquellen hät ten suchen können. Michael zündete sich eine Zigarette an, die erste, seit sie das Haus betreten hatten. Auf dem Tisch zwischen den beiden Lehnstühlen fand er einen Aschenbe cher. Auch eine Packung Papiertaschentücher lag dort. Ihm fiel auf, daß die Atmosphäre der beiden Arbeitszimmer, die er an diesem Abend gesehen hatte, trotz aller äußeren Ähnlichkeiten gänzlich verschieden war. In dem Zimmer, in dem sie sich befanden, herrschte eine weibliche Atmosphäre. Braun und Rot waren die dominanten Farben der Vorhänge, des Teppichs und der Couch. Die Stühle waren heller, aber nichts erinnerte an die Helligkeit des Wohnzimmers. Hier hingen keine großen farbigen abstrakten Bilder, die ihn beeindruckten, ohne daß er sie verstand; hier hingen nur schwarzweiße Holzschnitte und Bleistiftzeichnungen.
Er fragte Hildesheimer, wo das Schlafzimmer sei. In voll kommen sachlichem Ton antwortete der Alte, daß es im zweiten Stock liege. Michael empfand ein gewisses Unbehagen, da er nicht umhin konnte, sich Gedanken über die Beziehungen beider zueinander zu machen. Er wußte nicht genau, wie alt der Alte war. Die Erwähnung des Schlafzimmers und die Tatsache, daß der Alte ihn dorthin führte, erweckten in ihm Assoziationen, die ihn verlegen machten. Auf dem Weg zum zweiten Stock fragte er, wie häufig sie sich gesehen hätten. Den Worten Hildesheimers entnahm er, daß sie sich oft in ihrem Haus getroffen hatten, nicht aber zusammen ausgegangen waren. Michael erfuhr weiter, daß er eine Art väterlicher Freund gewesen sei, zuweilen auch mehr. Michael wagte nicht, laut zu fragen, was er unter dem »zuweilen auch mehr« zu verstehen hatte.
Als Hildesheimer in der Tür zum Schlafzimmer stand, wirkte er nicht verlegen, sondern einfach tief traurig. Unterdessen durchstreifte Michaels Blick wie ein Kameraobjektiv den Raum: ein großes Fenster, weiße Vorhänge, ein Doppel bett, Polster, Kommode, ein Toilettentisch, Kosmetikarti kel, ein riesiger Kleiderschrank. Hockneys Swimming-poolBilder und ein Koffer auf dem Teppich, an dem Michaels Blick hängen blieb.
Er war nicht abgeschlossen. Michael kniete nieder und leerte den Inhalt vorsichtig auf den Teppich vor dem Bett: Kleider, Wäsche, Kosmetik. Er fragte sich, weshalb eine so ordentliche Frau ihren Koffer nicht sofort nach ihrer Rück kehr ausgepackt hatte. Ob sie sich überhaupt in dem Zim mer aufgehalten hatte? Er mußte an das Klarinettenquintett denken und an den überquellenden Aschenbecher neben einem der Sessel im Wohnzimmer.
Er durchsuchte jedes Fach des Koffers und schaute dann zu Hildesheimer auf, der neben der Tür stand. Michael schüttelte verneinend den Kopf: kein Adreßbuch, kein Vortrag, keine Notizen.
Es war fast zwei Uhr morgens, als Inspektor Ochajon vom Schlafzimmer Eva Neidorfs die Zentrale anrief, die Adresse des Hauses durchgab und bat, eine Mannschaft zur Hausdurchsuchung zu schicken. »Auch jemand für die Fingerabdrücke, jemand vom Revier P«, sagte er müde. Er blickte sich noch einmal um. Das Schlafzimmer wirkte unbewohnt, und trotzdem war an einzelnen Stellen der Einrichtung der Staub weggewischt worden. Er wußte, was das zu bedeuten hatte, und als er auflegte, sagte er Hildeshei mer, daß ihnen zweifellos jemand zuvorgekommen sei. Jemand, der vorsichtig zu Werke gegangen war und keinerlei Fingerabdrücke hinterlassen wollte.
Sie gingen ins Wohnzimmer hinunter und warteten.
Hildesheimer saß zusammengekauert in einem der Lehnstühle. Michael ging nervös auf und ab und fragte sich, was das Zimmer so elegant mache. Er betrachtete die hohe, gewölbte Decke, die Schallplattensammlung, die kleinen Figuren. Er dachte darüber nach, wie viel Zeit, Energie und auch Geld in diesem Haus
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