Denn am Sabbat sollst du ruhen
Reise gebeten, die Patienten zu unterrichten, falls sich ihre Rückkehr verzögern würde. In diesem Falle sollte er sich dann mit ihrer Haushaltshilfe verabreden, um ins Haus zu gelangen, die Liste holen und die Patienten benachrichtigen. Der Alte bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Es vergingen einige Minuten, bis er sich wieder aufrichtete und seine Augen mit einem großen Taschentuch trocknete, das er aus seiner Manteltasche gezogen hatte.
»Bitte berühren Sie nichts davon«, sagte Michael und deutete auf die Papiere in der Schublade. Dann zeigte er Hildesheimer eines nach dem anderen, sorgsam bemüht, nichts durcheinander zu bringen. Der Alte überflog die Pa piere im Stehen, und Michael legte sie vor die Couch auf den dicken, etwas staubigen Teppich.
Am Ende stellte Hildesheimer, dessen Gesicht jetzt Be sorgnis erregend bleich geworden war, mit zitternder Stimme fest, daß keine Namensliste dabei sei.
Michael leerte schnell die restlichen Schubladen, Papiere stapelten sich auf der Couch. Gemeinsam prüften sie jeden Zettel. Sie fanden Rechnungen, Vortragsentwürfe, Sonderdrucke von Artikeln, Scheckhefte, Bankauszüge, Briefe, alles, was man nur in Schreibtischschubladen finden kann, aber keine Spur von dem Vortrag, der für den Sabbatmor gen angesetzt gewesen war, auch keine handschriftliche Fassung; sie fanden zwar ein vollständiges Verzeichnis aller Institutsmitglieder und Kandidaten, aber die Patientenliste blieb ebenso verschwunden wie Eva Neidorfs persönliches Adreßbuch.
Hildesheimer beschrieb ausführlich das Adreßbuch, zog schließlich sein eigenes aus der Tasche, ein kleines Buch mit blauem Plastikeinband, und sagte: »Hier, genau so sah es aus.« Er reichte es Michael und fügte hinzu: »Aber sie hatte es immer dabei, sie hatte es immer in der Handtasche.«
»Wir müssen es hier im Haus finden. In der Handtasche war es nicht, wie ich Ihnen erzählt habe«, erklärte Michael geduldig und fragte, ob sie denn ein Adreßverzeichnis gehabt habe, »so eins, wie man es in jedem Haus findet«.
»Ja, im Wohnzimmer, neben dem Telefon.«
Michael betrachtete das kleine Notizbuch. »Sie können gerne hineinsehen«, sagte Hildesheimer, »genau so eines müßte in ihrer Handtasche gewesen sein. Das normale Adreßverzeichnis liegt unten, aber darin finden Sie keine Namen von Patienten.«
Michael schlug die erste Seite des Büchleins auf, und der Alte erklärte ihm über die Schulter, daß es einen Plan der Behandlungszeiten und auch die Telefonnummern der Patienten enthalte. Michael untersuchte alle Ecken des Schreibtischs und öffnete auch das Geheimfach, ein Fach, das sich mit einer Sprungfeder öffnen ließ wie in antiken Schreibpulten. Aber dieses Fach war leer. Der Alte sagte erregt, daß sie in diesem Fach die Aufzeichnungen aufbewahrt habe, die sie nach den ersten Gesprächen mit neuen Patienten machte.
Die beiden ersten Begegnungen, erläuterte er atemlos, dienten dem gegenseitigen Kennen lernen. »Wir nennen es das Interview. Für gewöhnlich geht es bei diesen Sitzungen in erster Linie um biographische Fakten wie Alter, Familien verhältnisse, Eltern, Beruf. Außerdem fragt man, aus wel chen Gründen jemand zur Therapie kommt. Manche ma chen sich während dieser Gespräche Aufzeichnungen. Ich bin nicht dafür. Auch Eva machte sich ihre Notizen erst nach der Sitzung.«
Sie suchten beide, aber die Aufzeichnungen waren nicht da.
Michael blickte sich um. Er hatte bereits alle Einzelheiten des Zimmers registriert, nachdem er es betreten hatte. Es ähnelte Hildesheimers Arbeitsraum, zwei Lehnstühle, eine Couch mit dem Analytikersessel dahinter, ein Bücherschrank mit Fachliteratur, einige Lampen, deren gelbe Pergamentschirme das Licht weich und warm machten. In dem Bücherschrank fiel ein kleines, abgeschlossenes Fach auf, der Schlüssel steckte. Dort befanden sich schmale Hefte mit verschiedenfarbigen Einbänden.
Hildesheimer erklärte, daß es sich um Fallstudien handele, die im Institut vorgestellt worden waren.
Michael blätterte in den Heften, überflog die Titel auf den Einbänden, die alle wenigstens zwei Sätze umfaßten. Außer den Präpositionen dazwischen verstand er nichts. Auf allen Heften stand »geheim, intern«.
Hildesheimer erläuterte, daß die Anonymität der Patienten, um die es in den Fallstudien ging, streng gewahrt würde. Die Namen und alle Einzelheiten, die Rückschlüsse erlauben könnten, würden geändert, der Beruf nur angedeutet. Außerdem würden die Hefte den
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