Denn am Sabbat sollst du ruhen
Klinik blieb der Sonntag verzeichnet.
Ali war durchaus kein gläubiger Christ, wie er vorgab, aber er wollte zu Hause mit seinen Freunden zusammen sein, die sonntags frei hatten.
Er liebte die tiefe Stille, die den Garten am Sabbat umgab. Auf der Straße, die auch an Werktagen ruhig war, konnte man dann kaum ein Auto sehen.
An diesem Sabbat aber herrschte Hochbetrieb. Autos fuhren am Krankenhaus vorbei, um weiter unten in der Straße zu parken. Die Streifenwagen allerdings konnte er nicht sehen, denn sie hielten oben in der Nähe des Instituts. Als er an den Rosenstrauch kam, der dem Zaun am näch sten stand, war noch alles, wie es sein sollte. Er arbeitete gemächlich und genoß die Wärme der Sonne. Die Erde war noch immer feucht. Und dann sah er in dem Rosenstrauch, der direkt an den Zaun grenzte, etwas glänzen. Er streckte seine Hand aus und stieß auf Metall. Als er den Gegenstand in seiner Hand sah, einen kleinen Revolver mit Perlmuttgriff, handelte er schnell. Er blickte nach rechts und links, und als er sich vergewissert hatte, daß niemand ihn sah, ließ er den Revolver fallen und scharrte mit seinem Fuß Erde darauf. Anschließend kniete er nieder, hockte gebeugt ne ben dem Rosenstrauch und überlegte, was zu tun war.
Er wußte nicht, wie der Revolver in den Krankenhausgar ten gekommen war und auch nicht, wie lange er dort im Rosenstrauch gelegen hatte. Aber er wußte genau, welche Unannehmlichkeiten ihm daraus erwachsen konnten. Anfangs dachte er an die Möglichkeit, den Revolver tiefer zu vergraben und so zu tun, als ob er ihn nie gesehen hätte. Aber was, wenn die Waffe dann doch gefunden würde? Man würde ihn, den einzigen Gärtner, um Erklärungen bitten. Dieser Gedanke war beängstigend.
Später erwog er die Möglichkeit, den Revolver mit nach Hause zu nehmen und ihn dort jemandem zu geben. Aber wegen des schönen Wetters waren auf den Straßen zwischen Jerusalem und den »Territories« (wie die Juden es nannten) viele Spaziergänger und auch die Polizei unterwegs, und das jagte ihm Todesangst ein. Er dachte auch an die Durchsuchungen und Festnahmen, die nach dem Mord an dem Touristen in der Altstadt noch andauern konnten. Er grub wieder in der feuchten Erde, wobei er noch immer mit sich kämpfte. Mehr als alles fürchtete er den Kontakt mit den Behörden. Sein jüngerer Bruder war vor einigen Monaten unter dem Verdacht subversiver Tätigkeiten verhaftet worden. In der Margoa-Klinik wußte niemand davon. Ihm war klar, daß er keine Ruhe finden würde, bevor der Revolver aus seinen Augen und seinem Bewußtsein verschwunden sein würde. Er wollte keine Komplikationen.
Ali stand auf und sah sich um. Da sah er Tobol. Er dankte Gott, obwohl er an glückliche Fügungen nicht glaubte, daß er ihm in diesem kritischen Augenblick gerade Tobol geschickt hatte. Tobol war einer der Verrückten, die Ali besonders gern mochte. Von großem Vorteil in dieser Situation war Tobols immerwährendes Schweigen. Keinem war es je gelungen, im Laufe der vielen Jahre aus Tobol ein Wort herauszubekommen. Das hatte ihm der Hausverwalter in gebrochenem Arabisch erzählt während eines ihrer seltenen Gespräche. Selbstverständlich hatte nicht Ali dieses Gespräch begonnen, sondern der Hausverwalter, der sich über das Vertrauen wunderte, das Tobol Ali entgegenbrachte. Daß Tobol von Ali eine Zigarette annahm, wunderte ihn, daß aber Tobol hinter Ali herging, sich hinsetzte und seiner Arbeit zusah, grenzte an ein Wunder. Ali hatte zögernd gemeint, daß ihm der Mann nicht gefährlich zu sein scheine. Der Hausverwalter hatte zugestimmt, warnte aber, daß man nie wissen könne, wann einer »von denen« Amok laufen würde. Ali jedoch hatte keine Angst vor den Kranken. Während all der Monate, die er in der Klinik arbeitete, hatte ihm kein Kranker Furcht eingeflößt. Mit den Gesun den war das anders.
Nissim Tobol entdeckte Ali und näherte sich dem Rosen strauch. Ali rührte sich nicht, bis er sicher war, daß Tobol tatsächlich zu ihm kam, dann setzte er sich nieder und zog ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche. Tobol setzte sich in einiger Entfernung auf den Boden, und Ali wandte ihm langsam den Kopf zu und lächelte. Tobol stand auf und kam etwas näher, sah sich mit ängstlichem Blick um, ließ sich nach langem Zögern neben ihm nieder und zeigte auf die Zigaretten. Ali reichte ihm das Päckchen, und Tobol nahm sich drei Zigaretten. Zwei steckte er vorsichtig in seine Hemdtasche, die dritte steckte er sich in den Mund
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