Denn am Sabbat sollst du ruhen
Abschrift des Vortrags erwähnte er noch nicht.
Hillel sprang aufgeregt von seinem Platz auf, ruderte mit seinen Armen und schrie beinahe: »Nava, hörst du? Be greifst du, was er sagt? Es ist kein Zufall, daß...«, aber Nava blickte ihn so entsetzt an, daß Hillel sofort schwieg, sich neben sie setzte und seine Hand auf ihren Arm legte.
Dann fragte Michael, ob Eva Neidorf außer der Familie noch mit anderen Menschen zusammengekommen sei.
»Während der ganzen Zeit, die sie bei Ihnen verbracht hat«, betonte er, »auch wenn es nebensächlich erscheint«, und er sah Nava in die Augen, die »ja« sagte und zum ersten Mal in Tränen ausbrach.
Anfangs war es ein stilles Weinen, das allmählich zu einem kindlichen Schluchzen anstieg.
Michael wartete geduldig. Niemand sprach, bis sie sich beruhigte, dann antwortete Hillel: »Sie kehrte über Paris zurück, sie hatte einen Zwischenstopp von vierundzwanzig Stunden. Ich selbst habe den Flug für sie gebucht. Bis dahin hatte sie niemand außer uns gesehen. Sie kam doch wegen der Geburt. Sie kam zwei Tage vorher, und da waren wir alle etwas nervös, sogar das Zimmer haben wir nur provisorisch vorbereitet, für das Baby. Dann begann die Entbindung, und sie saß im Wartezimmer viele Stunden«, er streichelte Navas Arm. »Ich weiß, wo sie den ganzen Monat über war. Nava blieb eine Woche im Krankenhaus. Wir besuchten sie und bereiteten alles vor, was ein Baby so braucht. Eva und ich haben alle Einkäufe zusammen gemacht, es ist nicht wie hier, wo sich jeder um einen kümmert, etwas schenkt und hilft. Wir haben schnell alles erledigt, und als Nava dann mit dem Baby aus dem Krankenhaus zurückkam, saß Eva zu Hause und arbeitete an dem Vortrag, den sie an dem Sabbat halten sollte, als ...«
Er unterbrach sich und sah besorgt Nava an. Sie hatte zu weinen aufgehört, ihre Augen waren gerötet und jetzt auch zornig. Plötzlich sah sie ihrem jüngeren Bruder sehr ähnlich, der in einer anderen Ecke des hellen Sofas saß, auf dem auch Michael am letzten Sabbatabend gesessen hatte (vorgestern also, staunte Michael, es schien ihm wie eine Ewigkeit her). Beide sahen sich an, und Nava Neidorf wirkte wie jemand, der endlich begriffen hat, wovon die Rede ist: »Was du da sagst, kann ich nicht so ohne weiteres hinnehmen. Du behauptest, daß« – sie schluckte und atmete tief –, »daß der Tod meiner Mutter in Verbindung mit der Arbeit steht?«
»Wegen des Vortrags?« fuhr Nimrod mit einem Ausdruck plötzlichen Verstehens fort. »Das heißt, daß der Vortrag eine Rolle spielt?«
Michael berichtete, daß sämtliche Kopien des Vortrages verschwunden seien und daß man weder in ihrer Tasche noch im Institut etwas gefunden habe. »Vielleicht ist eine Kopie in Ihrem Haus in Chicago geblieben?«
Sie sahen einander an. Nimrod saß gespannt und nervös da und ließ seinen Blick zwischen Nava, Hillel und Michael hin- und hergehen. Nein. Nein, dort ist keine Kopie geblieben. Sie erklärten, daß es ein großes Haus sei, in einem Vorort der Stadt. Eva hatte einen eigenen Flügel mit Bad, »wo sie sich auch etwas ausruhen konnte«, sagte Hillel. Sie hatten den Vortrag nicht einmal gesehen. Wenn es Entwürfe gab, so hat sie bestimmt die Zugehfrau weggeworfen, die jeden Tag kam.
»Keine Chance«, sagte Hillel, »Sie haben keine Ahnung, wie ordentlich Eva war.«
Nimrod stöhnte und senkte den Blick. Hillel sah ihn an und schwieg.
»Sie sprachen von einer Zwischenlandung in Paris«, sagte Michael. »Was ist damit?«
Hillel nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. »Als Nava im Krankenhaus war, am Tag bevor sie nach Hause kam, fand ich Eva nachts um zwei in der Küche. Anfangs dachte ich, sie könne wie ich nicht einschlafen vor Aufregung, wegen der Ankunft von Nava und dem Baby. Aber schnell merkte ich, daß ihre Nervosität und Spannung mit dem Vortrag zu tun hatten. Sie sagte immer wieder, wenn sie sich mit Hildesheimer hätte beraten können, wäre alles leichter gewesen. Ich schlug ihr vor, zu telefonieren oder einen Brief zu schreiben, aber sie sagte, es sei keine Sache von Telefon oder Post, daß es so nicht gehe. Beinahe hätte ich ihr vorgeschlagen, früher nach Israel zurückzukehren, aber ich wollte sie nicht kränken, sie war doch wegen des Babys gekommen.« Seine Stimme wurde nachdenklich, als sehe er die Situation nun in einem neuen Licht. »Ich fragte sie, ob sie sich nicht mit jemand anderem beraten könne, sie sah mich mit großen Augen an und sagte: ›Oh, warum habe ich
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