Denn bittersüß ist der Schnee - Lene Beckers dritter Fall (Lene Becker ermittelt) (German Edition)
den Satz ab. Sein rundes, gutmütiges Gesicht mit der etwas zu kleinen Brille zeigte jetzt eine leichte Abwehr.
»Wegen der Heizungsluft ist das noch eine mathematische Aufg abe, die ich erst später genau beantworten kann. So ungefähr zwischen siebzehn und neunzehn Uhr zehn – da ging nämlich der Notruf ein.«
Beim letzten Satzteil lief ein kurzes Lächeln über sein Gesicht, das ihn ve rtrauenerweckend und sympathisch machte. Dann wurde er wieder ernst. »Ich kann es wirklich erst morgen sagen. «
Damit klappte er seinen Arztkoffer zu und verabschied ete sich. »Wir sehen uns ja sicher morgen früh bei der Obduktion.«
Lene reichte ihm ihre Karte mit ihrer Handynummer. Dann zog sie ihre Schutzhandschuhe an. Nun endlich konnte sie sich auf das Mordopfer konzen trieren.
Die Tote lag gekrümmt auf dem Boden, sie musste von dem Schlag brutal und tödlich getroffen worden sein, denn sie hatte sich nach dem Fall offensichtlich nicht mehr b ewegt. Keine weiteren Blutspuren im Raum, soviel sie sehen konnte. Die Frau selbst wirkte sehr gepflegt, sie schätzte sie auf Mitte fünfzig bis etwas über sechzig. Sie hatte kastanienbraunes kinnlanges Haar, das jetzt teilweise blutverschmiert an ihrem Kopf klebte. Die braunen Augen aufgerissen wie in unendlichem Erstaunen. Lene kannte diesen Gesichtsausdruck von früheren Mordopfern. Als ob sie nicht begreifen könnten in diesem letzten Augenblick, dass es ihnen geschah. Feine Gesichtszüge. Lene hätte die Frau gern lebend gekannt, aber jetzt blieb nur die Maske, die in ihrer Starre die Persönlichkeit mit auslöschte. Fingernägel, die mit farblosem Lack gepflegt waren, Designerjeans und ein grüner Mohairpulli. Ohrringe mit fein gearbeiteten Jadeanhängern, die genau zum Pulli passten. Auch die Schuhe waren elegant mit etwa fünf Zentimeter hohen schmalen Absätzen. Hatte sie Besuch erwartet? Oder vielmehr gehabt? Auf dem Couchtisch standen zwei benutzte Teetassen. Also ja, jemand hatte mit ihr Tee getrunken. Vielleicht ihr Mörder.
Vor der Toten auf dem Boden neben dem Schaukelstuhl lag ein e igenwillig in Leder eingebundenes dünnes Buch, in dem sie vielleicht gerade gelesen hatte. Ein Briefcouvert lugte an einer Seite darunter hervor. Später, jetzt musste erst der Fotograf seine Arbeit tun. Sie machte ihm Platz und ging hinüber zu Kalle, der sich mit Mike in stockendem Englisch unterhielt. Offenbar waren sich die beiden sympathisch.
Kalle hatte seine typische, zum Gesprächspartner hin gebeugte Körperha ltung, sein Gesicht mit der hohen Stirn war zugleich offen und konzentriert.
Er fuhr sich mit einer Hand über den Kopf, als wollte er sich unbewusst ve rgewissern, dass sein Haar noch da war. Seit jetzt zwei Jahren verlor er immer mehr davon, sein Haaransatz war schon fast auf die Mitte des Kopfes zurückgewichen, was zum großen Kummer des gerade vierzigjährigen geworden war. Da nützten auch Lenes aufmunternde Worte wenig.
»Wer hat sie gefunden? «
»Der Nachbar über ihr, ein – warte mal - Jürgen Klahr hat beim Nachhausekommen gesehen, dass die Wohnungstür offen stand. Er hat die Tote gefunden und uns gleich verständigt. «
»Gut, ich möchte noch mit ihm sprechen. «
Kalle erzählte, was Klahr berichtet hatte. Wenig spektakulär. Die Tür war offen gewesen, das war ihm aufgefallen. Er hatte Frau Merthens gerufen, aber keine Antwort erhalten. Da er die offene Tür ungewöhnlich fand, war er in die Wohnung gegangen und hatte sie dort im Wohnzimmer gefunden.
»Glücklicherweise ein Mann mit Verstand. Er hat nur vorsichtig am Hals nach dem Puls gefühlt, aber nichts gespürt. Dann den Notruf getätigt. Ich h abe ihm gesagt, dass er oben in seiner Wohnung auf uns warten kann. Er war von dem Schock wie gelähmt. «
»Weißt du schon, ob das Opfer allein gelebt hat? «
Kalle schüttelte den Kopf.
»Ich habe noch ein Zimmer gefunden, das offensichtlich einem Jungen, Ma rke älterer Teenager, gehört. Aber es war niemand in der Wohnung und ich weiß natürlich nicht, ob er der Sohn oder Enkel ist, ob er nur zeitweise oder immer bei ihr lebt. «
»Das will ich selbst begutachten. Können wir?« fragte Lene in Richtung Techniker und als der nickte, folgte sie Kalle auf der rechten Seite nach hi nten in den Flur, der so licht und gepflegt aussah wie vorher schon das Wohnzimmer. Auf der rechten Seite lag das Zimmer nach hinten hinaus. An der Wand schrille Poster, neben einem Marilyn Manson Bild, aus dem die Blutstropfen zu fallen schienen, ein weiteres,
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