Denn die Gier wird euch verderben - Thriller
waren nicht mehr zu sehen. Eine leichte Unruhe machte sich in ihm breit, und er lief schneller. In einem leeren Büro hockte der Junge unter einem Schreibtisch. Vera lag lang ausgestreckt auf dem Teppich.
Krister ging in die Hocke.
»Hallo da unten«, sagte er mit sanfter Stimme. »Wie geht’s denn so?«
Marcus gab keine Antwort. Und sah ihm nicht in die Augen.
»Wie geht es dem Wildhund?«, fragte Krister vorsichtig. »Hat er Hunger oder Durst?«
»Der Wildhund hat furchtbare Angst«, sagte Marcus leise. »Er hat sich versteckt.«
»O je«, flüsterte Krister und bat alle Götter um Klugheit und Behutsamkeit. »Warum hat er solche Angst?«
»Alle in seiner Hundefamilie sind tot. Jäger sind gekommen und haben sie gejagt und erschossen und Gruben gegraben, wo sie aufgespießt wurden, und es gab noch andere Fallen, die …«
»Ja?«
Marcus verstummte.
»Na gut«, sagte Krister nach einer Weile. »Gibt es einen Ort, wo der Wildhund sich sicher fühlt?«
Marcus nickte.
»Bei dir und Vera hat er nicht so furchtbare Angst.«
»Was für ein Glück, dass ich hier bin«, flüsterte Krister und rückte näher. »Glaubst du, der Wildhund traut sich, in meine Arme zu springen?«
Der Junge streckte die Arme nach ihm aus.
Was soll man machen, dachte Krister und hob Marcus hoch. Der legte ihm die dünnen Ärmchen um den Hals, und Krister richtete sich auf.
Was macht man mit so einem kleinen Menschen, der keinen Erwachsenen mehr in seinem Leben hat? Er verscheuchte die Wut auf die Mutter des Jungen, die sich nicht um ihn kümmern wollte. Ich weiß nichts über sie, mahnte er sich. Nichts wird besser, wenn ich wütend werde.
Er setzte sich mit dem Jungen auf dem Schoß in den Bürosessel. Sofort wurde sein Oberschenkel nass. Auf dem Teppich unter dem Schreibtisch gab es eine kleine Pfütze.
»Verzeihung«, sagte Marcus.
»Das macht nichts.« Krister schluckte. »So was kommt vor, weißt du. Komm schon. Du kannst dich gern an mich lehnen, wenn du magst. Wir bleiben noch ein Weilchen hier sitzen. Dann fahren wir los und holen saubere Kleider für dich. Ich trag dich zum Auto, wenn du willst.«
Krister legte seine Wange an Marcus’ Haare.
Du brauchst keine Angst zu haben, kleiner Hund, dachte er. Das verspreche ich dir.
»Du bist stark, du kannst mich tragen«, flüsterte Marcus. »Dann sehen die Jäger das nicht.«
»Nein, die sehen rein gar nichts.«
Krister spürte, wie sein Blick verschwamm.
»Versprochen. Du brauchst keine Angst zu haben. Denn ich bin wahnsinnig stark.«
R EBECKA M ARTINSSON SASS zu Hause am Küchentisch und kritzelte auf der Rückseite eines Umschlags herum, der eine Rechnung enthielt und in dem unsortierten Posthaufen gelegen hatte. Sie hatte mit Krister telefoniert. Er war davon überzeugt, dass nicht Marcus selbst die Fackel geholt und angezündet hatte.
»Weißt du, warum?«, hatte er gefragt. »Natürlich: Wo hätte er Fackel und Streichhölzer hernehmen sollen? Aber vor allem: Ich hatte ihn zugedeckt, als er eingeschlafen war. So ein kleiner Junge. Die schaffen es nicht, in den Schlafsack zu kriechen und die Decke ganz über sich zu legen, und die Decke war noch festgestopft, als ich den Kopf in die Hundehütte gesteckt und ihn herausgezogen habe.«
Ich hasse Zufälle, dachte Rebecka. Es hätte wie ein Unfall aussehen sollen. Noch ein Unfall.
Sie kritzelte auf der Rechnung herum, malte Kreise, schrieb Namen hinein, zeichnete Kreuze für die Toten.
Hjalmar Lundbohm war Sol-Britts Großvater. Die Großmutter, die Lehrerin, war ermordet worden. Sol-Britts Vater war vor einigen Monaten von einem Bären getötet worden. Sie selbst ermordet. Ihr Sohn überfahren, Fahrerflucht, vor drei Jahren. Und jetzt sah es ganz danach aus, als habe jemand ihren Enkel Marcus umbringen wollen.
Da lag die Schlussfolgerung doch auf der Hand: Sol-Britts Mörder – wer auch immer es war – wusste, dass der Junge etwas gesehen hatte. Etwas, das er noch nicht erzählt hatte. So etwas sprach sich irgendwann herum. Dass Sol-Britts Vater tot und ihr Sohn verunglückt war, hatte doch nichts mit dieser Sache zu tun. Warum auch?
Menschen sterben, dachte sie. Alle sterben früher oder später.
Rebecka tippte mit dem Finger den Kreis an, in den sie den Namen von Sol-Britts Sohn geschrieben hatte.
Diese Sache mit der Fahrerflucht sehe ich mir trotzdem genauer an, dachte sie. Ich habe ja sonst nichts zu tun.
E S IST O KTOBER 1914 . Der Krieg verschlingt Eisen und Stahl. Die Herbstkälte beißt sich im
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