Denn mein ist deine Seele: Psychothriller (German Edition)
gezogen wurde. Andere empfinden das sicher nicht so, aber sie werden mich recht bald sterben sehen und dann zufrieden sein, zumindest glauben sie das. Ich akzeptiere auch, dass du vielleicht nichts von mir hören willst, habe sogar zu einer kleinen List gegriffen, damit dich dieser Brief erreicht – eine wohlmeinende Dritte, ein Mensch, dem ich absolut vertraue, hat mir dabei geholfen. Das hier ist übrigens ihre Handschrift, nicht meine, und ich lasse sie den Brief schreiben, um neugierigen Blicken zu entgehen, zu deinem Schutz ebenso wie zu meinem. Aber ich wüsste zu gern, was für ein Leben du führst. Sicher ein ziemlich nettes, mit einem Mann, den man wegen seiner Arbeit auf Partys fotografiert, über die im Washingtonian berichtet wird, er im Smoking und du in einem Abendkleid. Du siehst ganz anders aus, aber immer noch gleich, wenn du weißt, was ich meine. Ich bin stolz auf dich, Elizabeth, und ich würde mich sehr freuen, von dir zu hören. Möglichst bald, haha!
Dein Walter
Und nur für den Fall, dass sie sich nicht mehr an den vollständigen Namen des Mannes erinnerte, der sie in dem Sommer, in dem sie fünfzehn Jahre alt gewesen war, entführt und beinahe sechs Wochen lang festgehalten hatte, für den Fall, dass sie noch jemanden in der Todeszelle kannte, dass sie den Mann vergessen hatte, der mindestens zwei Mädchen getötet hatte und verdächtigt wurde, viele weitere ermordet zu haben, wenngleich er sie hatte leben lassen – nur für den Fall, dass sie das alles vergessen hatte, hatte er hilfsbereit hinzugefügt:
(Walter Bowman)
Kapitel 2
1984
Walter Bowman sah gut aus. Wer etwas anderes behauptete, war ein Quertreiber, auf dessen Urteil man nicht bauen konnte. Er hatte dunkles Haar, grüne Augen und wurde leicht braun, auch wenn er eine typische Nato-Bräune bekam. Allerdings war er kein Soldat, sondern Automechaniker und arbeitete in der Werkstatt seines Vaters. An warmen Tagen hätte er gern ohne sein T-Shirt gearbeitet, aber davon wollte sein Vater nichts hören.
Er sah sogar so gut aus, dass seine Familie ihn deswegen aufzog, vielleicht, damit er nicht eingebildet wurde. Gut, er war nicht besonders groß, aber das waren die meisten Filmstars auch nicht. Das hatte ihm Claude, der Friseur, erzählt. Claude wollte Walter natürlich nicht mit einem Filmstar vergleichen – genau wie Walters Familie und wie jeder andere in der Stadt schien Claude darauf bedacht zu sein, Walter nicht übermütig werden zu lassen. Aber eines Tages erwähnte Claude, er habe in einem Kasino in Las Vegas Chuck Norris gesehen.
»Der Typ ist winzig. Aber alle Filmstars sind ja klein«, sagte Claude, als er gerade fertig wurde. Walter liebte das Gefühl, wenn der Pinsel über seinen Nacken strich. »Sie haben große Köpfe, aber sie sind klein.«
»Wie klein?«, fragte Walter.
»So groß wie mein Daumen«, antwortete Claude.
»Nein, mal ehrlich.«
»Eins siebzig, eins zweiundsiebzig. Etwa wie du.«
Genau das wollte Walter hören. Wenn Chuck Norris etwa so groß war wie er, war das beinahe so, als wäre Walter wie Chuck Norris. Aber eine Sache musste er doch klarstellen.
»Ich bin eins fünfundsiebzig groß. Das ist der Durchschnitt bei Männern, wusstest du das? Eins fünfundsiebzig bei Männern, eins zweiundsechzig bei Frauen.«
»Ist das der Durchschnitt oder der Median?«, fragte Claude. »Das ist nämlich nicht das Gleiche.«
Walter wusste nicht, worin der Unterschied bestand. Er hätte fragen können, aber er vermutete, dass Claude es eigentlich auch nicht wusste, und außerdem hätte sich der Friseur nur über seine Dummheit lustig gemacht.
»Der Durchschnitt«, antwortete er.
»Na, irgendwer muss ja durchschnittlich sein«, sagte Claude, der groß war, aber dürr und irgendwie komplett rosa – blasse, fleckige Haut, hellrotes Haar, wässrige Augen, die er ständig zusammenkniff, weil er jahrelang auf die Haare auf seiner Friseurschere gestarrt hatte. Alle versuchten ständig, Walter in seine Schranken zu weisen, ihn kleinzuhalten, ihn von dem abzuhalten, was er werden konnte. Sogar Frauen und Mädchen schienen sich an dieser Verschwörung zu beteiligen. Denn Walter fand trotz seines guten Aussehens einfach kein Mädchen, das sich mit ihm verabreden wollte, nicht einmal zu einem einzigen Date. Das konnte er nicht begreifen. Am Anfang lief es immer ganz gut, und er konnte das Mädchen in ein Gespräch verwickeln. Er las viel, er wusste viel, er konnte aus einem Vorrat interessanter Anekdoten
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