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Denn niemand hört dein Rufen

Denn niemand hört dein Rufen

Titel: Denn niemand hört dein Rufen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Higgins Clark
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erstaunlich offen gewesen. Michael setzte mehrfach dazu an, sich zu entschuldigen, weil er an seiner Unschuld gezweifelt hatte, doch Gregg winkte nur ab und sagte: »Mike, ich musste in letzter Zeit oft an den schrecklichen Unfall denken, den ich mit sechzehn hatte. Ich lag damals sechs Wochen auf der Intensivstation. Erinnern kann ich mich an keinen einzigen Augenblick aus dieser Zeit. Hinterher berichtete mir meine Mutter, ich hätte in den vergangenen drei Wochen fast ununterbrochen wirres Zeug geredet und immer wieder gebeten, man möge die Schläuche entfernen. Die Krankenschwester hätte ich für meine Großmutter gehalten, die bereits gestorben ist, als ich sechs war.«
    »Davon hast du mir nie erzählt«, sagte Mike.
    »Wer erzählt schon gern von der Erfahrung, dem Tod so nah gewesen zu sein?« Gregg lächelte – ein wehmütiges Lächeln –, als er hinzufügte: »Und außerdem, wer will schon so was hören? Man hat schon mit genug Unglück und Elend auf dieser Welt zu tun, also will man sich nicht auch noch jemandes Unglücksgeschichten von vor sechsundzwanzig Jahren anhören. Komm, lassen wir das und reden wir über etwas anderes.«

    »Solange du nicht aufhörst zu essen«, hatte Mike entgegnet. »Gregg, wie viel hast du eigentlich abgenommen?«
    »Gerade so viel, dass mir meine Hosen wieder richtig passen.«
    Am frühen Samstagmorgen holte Mike Gregg und Katie ab, um gemeinsam zu seiner Hütte nach Vermont zu fahren. Es war noch fast zwei Monate zu früh zum Skifahren, doch am Nachmittag unternahmen Gregg und Katie einen langen Spaziergang, während Mike an seinem Buch über die großen Verbrechen des zwanzigsten Jahrhunderts arbeitete.
    Zum Abendessen fuhren sie nach Manchester. Wie gewöhnlich war es in Vermont ein ganzes Stück kälter als in New York, und das lodernde Kaminfeuer in der Gaststätte wärmte allen dreien Körper und Seele.
    Später, als Katie sich mit einem Buch unter dem Arm verabschiedete und zu Bett ging, gesellte sich Gregg zu Mike, der sich nach dem Abendessen noch einmal in sein Arbeitszimmer zurückgezogen hatte. »Wenn ich mich richtig erinnere, hast du erwähnt, dass du auch an einem Kapitel über Harry Thaw arbeitest, den Millionär, der den Architekten Stanford White im New Yorker Madison Square Garden erschossen hat.«
    »Ja, das stimmt.«
    »Er hat ihn vor den Augen einer Menschenmenge erschossen und hat am Ende mit Erfolg auf zeitweilige Unzurechnungsfähigkeit plädiert, nicht wahr?«
    Michael überlegte, was Gregg mit seiner Frage bezweckte. »Ja, aber Thaw musste immerhin für eine gewisse Zeit in eine Anstalt«, sagte er.
    »Und als er nicht allzu lange danach wieder aus der Anstalt
entlassen wurde, ist er in ein schönes großes Haus am Lake George gezogen, soweit ich mich erinnere.«
    »Schon gut, Gregg. Worauf willst du eigentlich hinaus?«
    Gregg steckte die Hände in die Hosentaschen. Er wirkte auf Mike seltsam dünnhäutig. »Mike, nach diesem Unfall als Jugendlicher kam es immer wieder zeitweise vor, dass ich mich nicht an Dinge erinnern konnte, die passiert waren. Das hat sich alles irgendwann gegeben, doch was sich nie ganz gegeben hat, ist mein mangelndes Zeitgefühl. Ich kann mich so sehr in eine Sache vertiefen, dass ich nicht bemerke, wenn mehrere Stunden dabei vergehen.«
    »Das nennt man die Fähigkeit, sich zu konzentrieren«, sagte Mike.
    »Danke. Aber das ist an dem Morgen passiert, an dem Natalie ermordet wurde. Das war im März. Das Wetter war scheußlich. Wenn man am Schreibtisch sitzt und die Zeit vergisst, ist das eine Sache. Etwas anderes ist es, wenn man draußen ist. Der Punkt ist, ich weiß, dass ich Natalie nicht getötet habe. Mein Gott, wie sehr habe ich sie geliebt! Aber ich wünschte, ich könnte mich an diese zwei Stunden erinnern. Ich erinnere mich genau, dass ich den Mietwagen zurückgebracht habe. Kann es sein, dass ich zwei Stunden gelaufen bin und so weit weggetreten war, dass ich die Kälte oder die Erschöpfung überhaupt nicht bemerkt habe?«
    Ergriffen von den Zweifeln und der Verwirrung, die er im Gesicht seines Freundes lesen konnte, stand Michael auf und packte Gregg an den Schultern. »Gregg, hör mir zu. Du hast gestern im Zeugenstand einen großartigen Eindruck gemacht. Ich habe dir geglaubt, was du über dieses Ekel von Easton gesagt hast und warum du Natalie so oft angerufen hast. Ich kann mich erinnern, dass ich einmal
mitten in einem Gespräch mit dir war, als du plötzlich den Knopf auf deinem Handy gedrückt hast

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