Denn rein soll deine Seele sein
»Unsere Kinder kommen heute offenbar schon intelligenter auf die Welt. Aber sie haben auch bessere Lehrer.«
Gilbert nahm das Kompliment mit einem Nicken zur Kenntnis und stand ebenfalls auf. Alle drei schwiegen einen Augenblick verlegen.
»Gut, daß dir nichts passiert ist«, sagte Hawthorne.
»Dank dir schön für deine Fürsorge.«
»Soll ich dich nach Hause bringen?« fragte Gilbert.
»Danke, aber das ist wirklich nicht nötig. Mit Übervorsicht macht man sich nur verrückt.«
Es gab zwar in der Synagoge keine feste Sitzordnung, aber es hatte sich trotzdem eingebürgert, daß jeder seinen bestimmten Platz hatte. Rina saß meist in der ersten Reihe der Galerie, die den Frauen vorbehalten war.
Sie sah Zvi vorn am Podium davenen. Rechts von ihm stand Yossie mit verlorenem Gesichtsausdruck, daneben seine beiden kleinen Brüder, die sich hin und wieder ein bißchen schubsten.
Nicht nur Rina, sondern alle Frauen, die gestern in der Mikwe gewesen waren, starrten Zvi an. Der »Zwischenfall« war das vorherrschende Thema der geflüsterten Unterhaltung auf der Galerie. Auch Rina versuchten die anderen Frauen ins Gespräch zu ziehen, aber ihr widerstrebte der müßige Klatsch, und sie konzentrierte sich auf ihren hebräischen Text. Heute betete sie mit besonderer Hingabe. Das Schicksal liegt wahrlich in der Hand des Höchsten, dachte sie. Aber sie würde das Ihrige dazu tun, indem sie dem Rat des Kriminalbeamten folgte und kein Risiko einging. Meist kehrte sie mit ihren Söhnen nach dem Gottesdienst so schnell wie möglich heim, um die letzten Vorbereitungen für das Schabesessen zu treffen. Heute wartete sie auf ihre Gäste, und sie gingen alle zusammen.
Der Tisch war festlich gedeckt, Rinas bestes Silber funkelte im warmen Licht der Sabbatkerzen. Das Essen war reichlich und gut. Es wurde gesungen und erzählt, die Kinder berichteten über lustige Begebenheiten der vergangenen Woche, Rinas Schüler gaben eine kurze Talmudlektion. Nach dem Gebet, mit dem das Essen endete, wurde wieder gesungen.
Das festliche Zusammensein dauerte bis Mitternacht. Als die Gäste gegangen waren, konnte Rina die übermüdeten Jungen kaum bändigen. Doch geduldig brachte sie die Kinder mit einer Gutenachtgeschichte und viel Zärtlichkeit zur Ruhe. Als sie in der Küche aufgeräumt hatte, war es halb zwei.
Jetzt schlüpfte auch sie unter die Decke und schlief sofort ein. In den frühen Morgenstunden riß ein durchdringender Schrei sie aus dem Schlaf. Sie sprang aus dem Bett und lief ins Kinderzimmer. Die beiden Jungen schliefen fest. Noch einmal überprüfte sie die Türschlösser, konnte sich aber nicht aufraffen, aus dem Fenster zu schauen. Wieder hörte sie die Schreie, dann Schritte auf dem Dach. Diese verflixten Katzen!
Die nachfolgende Stille war zutiefst unheimlich. Mit jagendem Herzen legte Rina sich wieder ins Bett und starrte auf die Schatten an der Wand, bis ihr vor schierer Erschöpfung die Augen zufielen.
6
»Steckst du mir mal meine kipah fest, Ima?« fragte Shmuel. Rina legte die Zeitung aus der Hand, befestigte das widerspenstige Käppchen mit vier Haarklemmen in den kurzen Locken und gab ihrem kleinen Sohn einen zärtlichen Kuß auf die salzigfeuchte, samtweiche Wange.
Er bedankte sich und lief zu seinen Spielfiguren, wo das Team von G. I. Joe gerade erbarmungslos den Mächten der Finsternis den Garaus machten. Kinder urteilen viel rigoroser als Erwachsene, dachte Rina. Wenn es nach ihnen ginge, wäre jedem Verbrecher die Todesstrafe sicher.
Sie schlug die Zeitung wieder auf, und die Schlagzeile sprang ihr förmlich ins Gesicht. Der Sittenstrolch von Foothill hatte wieder zugeschlagen. Im zweiten Absatz war Deckers Name genannt.
Sie legte die Zeitung beiseite und trank langsam ihren Kaffee. Seit der Vergewaltigung vor der Mikwe waren fast zwei Wochen vergangen. Die ärgste Furcht hatte sich gelegt, in der Jeschiwa war wieder der Alltag eingekehrt - mit dem Unterschied, daß die Mikwetür jetzt ein Sicherheitsschloß hatte und die Frauen sich nach dem rituellen Bad von ihren Männern heimbringen ließen.
Rina war zunächst meist mit der letzten Frau, die das Bad benutzte, nach Hause gegangen. Das bedeutete aber, daß sie entweder am nächsten Tag zum Saubermachen früher kommen mußte als gewöhnlich oder daß schon jemand wartete, während sie noch die Böden scheuerte. In letzter Zeit war sie leichtsinnig geworden und manchmal auch wieder allein nach Hause gegangen. Ein paarmal war sie drauf und dran gewesen,
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