Denn rein soll deine Seele sein
Yitzchak war ein warmherziger Mensch und guter Vater gewesen, aber eine gewisse Distanz in ihrer Beziehung war immer bestehengeblieben.
Daß ausgerechnet ein Gehirntumor seinem Leben ein Ende gesetzt hatte, war eine grausame Ironie des Schicksals. Rina spürte, wie sich wieder Trauer in ihr regte. Als sie von ihrem Text aufsah, traf ihr Blick den rotblonden Jungen in der Ecke, der, seit er ins Klassenzimmer gekommen war, noch keine Miene verzogen hatte. Yossie sah seinem Vater Zvi sehr ähnlich, und auf seinem Gesicht lag der gleiche schmerzlichbenommene Ausdruck wie in der vergangenen Nacht auf Zvis Zügen. Gesagt haben sie es ihm bestimmt nicht, dachte Rina, aber er weiß es. Die älteren Kinder wittern immer, wenn etwas nicht in Ordnung ist.
Die Klassenbesten hatten ihre Arbeiten schon abgegeben, und Rina überlegte, daß sie sich bei ihnen eigentlich die Mühe des Korrigierens sparen konnte. Fehler würde sie in diesen Arbeiten schwerlich finden. Bald saß nur noch Yossie auf seinem Platz und starrte ins Leere.
»Yossie«, sagte sie sanft. »Geh nach Hause. Nimm die Arbeit mit und mach sie fertig, wenn dir danach ist. Ich weiß, daß ich mich auf dich verlassen kann.«
»Danke«, sagte er leise. Er stand auf, stopfte die Blätter in seine prall gefüllte Aktentasche und ging hinaus.
Rina kam als letzte zur Konferenz. Dreimal im Semester setzte sie sich mit den anderen beiden weltlichen Lehrern zu einer Besprechung des Lehrplans zusammen. Rina war für Mathematik zuständig, die beiden Kollegen für Geisteswissenschaften und für die naturwissenschaftlichen Fächer.
Matt Hawthorne war Lehrer für Geschichte und Englisch. Er war Mitte Zwanzig, nicht sehr groß, dunkel gelockt, mit einem Gesicht wie ein freundlicher Kobold. Er war immer zu Scherzen aufgelegt und deshalb besonders beliebt bei den weniger braven Schülern.
»Willst du nicht die Tür zumachen, Rina?« fragte er.
»Ich lasse sie lieber offen«, antwortete sie automatisch.
In Hawthornes Augen blitzte es belustigt auf. »Müssen denn unbedingt alle Schüler unsere Berufsgeheimnisse mitbekommen?«
Rina seufzte. Matt wußte genau, daß sie aus religiösen Gründen nicht gern mit den Männern hinter verschlossener Tür tagte, aber er zog sie trotzdem immer wieder damit auf. Meist nahm sie es nicht krumm, doch heute war ihr nicht nach Frotzeleien zumute.
Steve Gilbert kam ihr zu Hilfe. »Berufsgeheimnisse? Daß ich nicht lache! Laßt ruhig die Tür offen, bei dieser Hitze ist man ja für jeden Luftzug dankbar.«
Rina kam mit beiden Kollegen gut aus, aber Steves ruhige Art lag ihr mehr. Er war Mitte Dreißig und Brillenträger. Sein Haar lichtete sich bereits, aber sein Gesicht wirkte noch jugendlich. Wie Matt unterrichtete er an einer staatlichen Schule und besserte mit der Arbeit an der Jeschiwa am späten Nachmittag sein Gehalt ein wenig auf.
Die Besprechung der anstehenden Probleme verlief reibungslos. »Machen wir Schluß für heute?« fragte Rina.
Matt sah nach unten. Sein Auge zuckte - ein nervöser Tick, den Rina schon an ihm kannte. »Was gibt's, Matt?«
»Es hat nichts mit dem Lehrplan zu tun. Ich habe gehört, daß hier letzte Nacht etwas vorgefallen ist. Eine Frau soll vergewaltigt worden sein.«
»Wo hast du das gehört?«
»Es wird da so einiges gemunkelt. Angeblich war Yossie Adlers Mutter das Opfer. Stimmt das?«
»Ja, aber ich möchte nicht darüber sprechen, Matt. Es ist zum Glück noch einmal glimpflich abgegangen.«
»Da bin ich aber froh«, sagte Hawthorne. »Man kann ja heute keine Zeitung mehr aufschlagen, ohne daß einem in dicken Schlagzeilen eine neue Untat des Sittenstrolchs von Foothill vorgesetzt wird. Hör zu, Rina. Wir wissen, daß du allein stehst und deshalb besonders angreifbar bist. Wenn du uns brauchst, kannst du uns jederzeit anrufen.«
»Danke. Wenn sonst nichts mehr zu besprechen ist, würde ich jetzt gern heimgehen.«
Sie stand auf. Matt Hawthorne rückte ihren Stuhl ab.
»Wie ritterlich«, bemerkte Gilbert ziemlich frostig.
»Ja, meine Mami hat mich gut erzogen, Stevie.«
»Das hätte ich fast vergessen, Rina.« Gilbert kramte in seiner Aktentasche herum und holte ein paar Computerbogen heraus. »Nimm das doch bitte deinen Jungs mit. Es sind die Programme, die sie gestern im Computerclub geschrieben haben, ich habe sie heute früh durchlaufen lassen.«
»Und sie haben funktioniert?« Rina nahm ihm die Bogen ab.
»Natürlich haben sie funktioniert.«
Rina war der mütterliche Stolz anzusehen.
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