Denn Wahrheit musst du suchen
oder was auch immer?«
»Natürlich«, entgegnete Lucinda, als ob etwas anderes völlig undenkbar wäre.
»Und was ist nach seinem Tod passiert? Also, mit Nathaniel und Isabelle …?«
»Alistair und ich waren einander immer nahe«, fuhr Lucinda fort. »Ich war die Patentante von beiden Kindern. Da Isabelles Mutter ja noch lebte – und immer noch lebt – ist Isabelle bei ihr aufgewachsen. Aber Nathaniel hatte nur mich.«
»Und … wie war er so?«, fragte Allie neugierig.
»Schwierig«, sagte Lucinda. »Ich war oft dienstlich unterwegs. Nathaniel und Isabelle waren damals beide auf Cimmeria. Es war sein letztes Jahr. Und dann wurde das Testament verlesen …« Sie schüttelte den Kopf.
Irgendwie kam Allie die Geschichte bekannt vor. Hatte Isabelle nicht vor langer Zeit mal etwas von einer Erbschaft erzählt? »Was ist passiert? Was stand in dem Testament?«
Lucinda setzte ihre Teetasse vorsichtig auf der zierlichen, weißen Untertasse ab. »Alistair hat alles Isabelle vermacht. Dem jüngeren Kind. Der
Tochter
. Nicht dem älteren Sohn. Nathaniel war schockiert – und hat es so interpretiert, dass sein Vater ihn nie wirklich geliebt hat. Aber dem war nicht so. Natürlich hat sein Vater für ihn gesorgt. Bis heute geht ein großer Teil der Einkünfte aus Unternehmen und Geldanlagen an ihn, aber das bedeutet ihm nichts. Für ihn zählt nur, dass sein Vater nicht ihm das Familienerbe anvertraut hat. Sondern Isabelle.«
Allie atmete hörbar aus. »Und wieso hat er das getan? Ich meine: alles Isabelle überlassen?«
»Alistair war durch und durch Geschäftsmann«, sagte Lucinda und warf ihr einen durchtriebenen Blick zu. »Er hat sein ganzes Leben der Arbeit gewidmet. Nathaniels Charakterschwäche war ihm wohl bewusst. Das hat ihn sehr beschäftigt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es eine rein geschäftlich motivierte Entscheidung war.«
»Und deshalb hasst Nathaniel Isabelle jetzt so?«, fragte Allie. »Wegen diesem Testament veranstaltet er also den ganzen Zinnober?«
»Ich glaube schon«, antwortete Lucinda. »Da liegt zumindest die Wurzel des Ganzen. Mein Verhalten hat natürlich auch nicht gerade dazu beigetragen, ihn zu besänftigen. Als Präsidentin von Orion habe ich mit meinen Entscheidungen dafür gesorgt, dass er da auch nichts zu erben hat – und deswegen hasst er uns alle.«
Eine Weile saß Allie ganz still da. Je mehr Lucinda erzählte, desto mehr fügten sich die Puzzleteile ihres Lebens zu einem Ganzen.
Aber es gab immer noch etliche Leerstellen.
»Am Telefon hast du mal gesagt, dass die Polizei auf seiner Seite ist und er sich mit Ministern trifft. Irgendwie versteh ich immer noch nicht, wie er das macht«, sagte Allie.
»Tja, daran kann man sehen, wie clever – und wie gründlich – Nathaniel ist«, erwiderte Lucinda. »Nach seinem Studium in Oxford fing er an, für mich zu arbeiten. Es sah aus, als hätte er sich beruhigt und mit seiner Situation abgefunden. Ich begann wieder große Hoffnungen in ihn zu setzen. Er fing als einfacher Büroangestellter bei mir an, machte seine Sache aber so gut, dass er rasch aufstieg.« Sie stieß ein bitteres Lachen aus. »Irgendwann machte ich ihn zu meinem Stellvertreter. Er kümmerte sich um das Tagesgeschäft in meinen Ämtern und im Rahmen meiner Tätigkeit für Orion und hat mich vertreten, wenn ich auf Dienstreise war – was ziemlich oft vorkam. So wurde er in den Aufsichtsrat von Orion eingeführt und konnte gute persönliche Beziehungen zu dessen Mitgliedern aufbauen. Zu meinem ewigen Kummer nutzte er diese Zeit offenbar aber vor allem dazu, heimlich Informationen zu sammeln, die er gegen mich verwenden konnte. Er fand heraus, wer unzufrieden war, wer mehr wollte, was den Leuten an meinem Führungsstil nicht gefiel und welche Veränderungen sie sich wünschten. Wo er konnte, säte er Unzufriedenheit. Und nach ein paar Jahren hatte er sämtliche Informationen zusammen, die er brauchte, um mir das Wasser abzugraben – und mich zu vernichten.«
Sie stützte das Kinn auf ihre Hand und ließ die grauen Augen kummervoll durch den Raum schweifen. »Eines Tages, ungefähr vor sechs Jahren, kam ich von einer Reise nach Russland zurück – und er war fort. Er hatte meinen Bürosafe geplündert, ein paar brisante Dokumente mitgenommen und sich abgesetzt.« Sie sah Allie an. »Damit fing alles an.«
Irgendetwas an ihrem Tonfall verursachte Allie eine Gänsehaut. »Fing
was
an?«
Lucinda machte eine ausholende Geste. »Der Kampf um
Weitere Kostenlose Bücher