Denn Wahrheit musst du suchen
überhaupt Worte, die erklären konnten, wie ihr zumute war?
Aber er ließ sie gar nicht zu Wort kommen, sondern schloss sie in die Arme. »Ich weiß schon, was passiert ist«, sagte er mit rauer Stimme. »Wir holen sie da raus!«
»Es tut mir so leid, Raj«, rief Allie und kämpfte mit den Tränen. »Das ist alles meine Schuld!«
»Unsinn«, sagte Raj und hielt sie eine Armlänge von sich entfernt, damit sie seine Entschlossenheit sehen konnte. »Es ist einzig und allein Nathaniels Schuld. Und wenn wir ihn kriegen, dann werde ich ihn ganz genau spüren lassen, wie ich das alles finde.« Seine Augen bekamen urplötzlich etwas Raubtierhaftes, Gefährliches.
Doch so schnell der Ausdruck aufgeblitzt war, so schnell war er auch wieder verschwunden, und Raj, wieder ganz Herr seiner selbst, sah sich im Raum um. »Alles klar mit euch?«
Alle nickten.
»Kann ich die Nachricht mal sehen?« Raj streckte die Hand aus.
Allie zögerte kurz. Noch vor ein paar Wochen hätte sie niemandem den Zettel gezeigt. Sie wäre hinausgerannt und hätte versucht, Rachel auf eigene Faust freizubekommen. Und Rachel wäre vermutlich dabei umgekommen.
Aber sie hatte dazugelernt. Sie hatte zugesehen, wie die anderen sich für sie aufopferten, für Jo. Sie hatte miterlebt, wie sie um ihretwillen alles aufs Spiel setzten.
Sie vertraute ihnen. Und glaubte an sie.
Sie drehte sich zu ihnen um. Sylvain sah sie an und nickte kurz.
Da erst zog sie das zerknüllte, blutverschmierte Stück Papier aus ihrer Tasche und hielt es Raj hin.
»Wir müssen mit dir reden«, sagte sie. Die anderen versammelten sich zur Unterstützung um sie. »Wir haben da ’ne Idee.«
»Das macht Isabelle nie mit!«, sagte Raj entschieden,
»Das wissen wir.« Nicole sah ihn vielsagend an. »Deshalb müssen wir entscheiden, wie wir das machen.«
Raj hatte seine Wachen wieder zurück in die Gänge und Treppenhäuser geschickt. Emma war zur Untersuchung auf die Krankenstation gebracht worden. Nur Allie, ihre Freunde und er waren in dem kühlen Keller zurückgeblieben.
Raj rieb sich die Augen. »Gehen wir’s noch mal durch.«
»Nathaniel verlangt ja, ich soll ohne dich, Isabelle oder sonst irgendwelche Wachen oder Ausbilder kommen«, erklärte Allie geduldig. »Aber von Schülern ist nicht die Rede. Ich werde also zur Burgruine gehen. Die anderen werden mir durch den Wald folgen, für den Fall, dass ich in Schwierigkeiten gerate. Deine Wachleute und du, ihr werdet bereits da sein und euch versteckt halten. Nathaniel wird denken, dass ich mich an seine Regeln halte, und Rachel nichts … tun« – das letzte Wort brachte sie beinahe nicht heraus, so sehr wünschte sie sich, es möge so kommen. Zitternd holte sie Luft. »Ich werde allein gehen – die anderen bleiben in meiner Nähe. Ihr wartet, bis er Rachel freigelassen hat, dann kommt ihr ins Spiel – mit euch wird er nicht rechnen.«
»Meine Leute sind zurzeit über das ganze Gelände verteilt«, sagte Raj bedächtig, während er die Skizze auf dem schmutzigen Boden studierte: ein nicht ganz geschlossener Kreis, auf dessen offene, linke Seite mehrere Pfeile zuflogen. Es war Napoleons Plan von der Schlacht bei Austerlitz, doch diesen Hinweis hatte Allie lieber weggelassen. »Ich könnte Anweisung geben, dass sie einer nach dem anderen in Stellung gehen sollen«, fuhr er fort. »Also einzeln, nicht in der Gruppe. Dann wären sie praktisch nicht zu entdecken.« Er warf einen Blick in die Runde, und an seinem Gesichtsausdruck erkannte Allie, dass er sich bereits entschieden hatte: »Ein guter Plan.«
Sie versuchte, sich ihre Freude nicht anmerken zu lassen, doch ihr Herz machte vor Aufregung einen Sprung.
Gemeinsam kriegen wir das hin!
»Und was ist mit Isabelle?«, fragte Zoe zweifelnd. »Das erlaubt die doch nie.«
Raj stand auf und wischte die Pfeile mit seiner Stiefelsohle fort. Im Nu waren alle Beweise vernichtet. »Sie wird nichts davon erfahren.«
Mit offenem Mund starrten sie ihn an.
»Wie …?«, setzte Allie an, doch Raj gebot ihr mit einer Handbewegung Einhalt. Er wirkte angespannt und hatte den Kiefer gestrafft, wie in Erwartung eines Hiebs.
»Ich leite die ganze Operation. Isabelle und ich haben sowieso entschieden, die Night-School-Ausbilder nicht in unsere Pläne einzuweihen, weil wir nicht wissen, wem wir trauen können. Ich habe inzwischen an die hundert Wachen losgeschickt, und die berichten alle direkt an mich.«
Ein Murmeln erhob sich.
»Hundert Leute?«, fragte Carter verblüfft.
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