Denn Wahrheit musst du suchen
erwiderte Allie. Sie hob die Hand mit den Taschentüchern, als wollte sie sagen:
Wie hätte er auch sonst reagieren sollen?
»Und was denkst du? War es ein Fehler? Ich meine, stehst du immer noch auf ihn?«
»Nein. Das heißt, ich weiß nicht.« Allie seufzte. »Ich bin einfach nur verwirrt. Ich meine, wenn man mit jemandem zusammen war und gedacht hat, dass man ihn … na ja: liebt … wie kann man da auf einmal sagen: ›Ach, ich lieb dich gar nicht mehr‹, einfach so auf Knopfdruck? Ich vermiss es einfach, mit ihm zusammen zu sein, ihn als Freund zu haben – und mich nervt, dass uns ständig dieses Wir-war’n-mal-zusammen-Ding dazwischenpfuscht. Aber das geht nicht einfach so weg. Und wenn ich mit ihm allein bin, gibt es jedes Mal ein großes Kuddelmuddel.«
»Mit anderen Worten: Du hättest ihn gern wieder als Freund zurück.«
Allie schwieg und dachte darüber nach. »Ja … wahrscheinlich schon.«
»Ich hab da nämlich so ’ne Theorie. Möchtest du sie hören?«, fragte Rachel – und es war, als würde der Raum durch ihr Lächeln wärmer.
Allie nickte und kuschelte sich an Rachel. Allmählich glaubte sie wirklich, dass Rachel die Sache besser machen konnte.
»Ich glaube, wenn man mit einem Mädchen befreundet ist, das man wirklich liebt – also so, wie wir zwei uns lieben –, dann ist die Sache supereinfach. Wir beide mögen einander wirklich gern und sind keine Lesben, also – zack, schon sind wir die besten Freundinnen!«
Allie nickte zaghaft, und Rachel fuhr fort: »Aber stell dir vor, ich wär ’n Kerl und du wärst eine gute Freundin von mir – dann könnte es leicht das totale Durcheinander geben. Und wenn dann auch noch sonst alles drunter und drüber geht und du ständig in Gefahr bist, kann es schnell passieren, dass du deine Freundschaft zu mir als romantische Liebe missverstehst und auf einmal meine richtige Freundin sein willst. Und schon gibt es das reinste Gefühlswirrwarr.«
Sie lehnte sich zurück, um Allies Gesicht besser sehen zu können. »Also, was ich damit sagen will: Ich glaub, dass man Freundesliebe und romantische Liebe leicht verwechseln kann, wenn der Freund, um den es geht, ein Kerl ist. Und deswegen bist du so verwirrt.«
Allie zerriss langsam ein Taschentuch in kleine Fetzen und dachte über Rachels Worte nach.
Wenn das stimmt, erklärt das vielleicht, wieso ich mich immer so zwischen Carter und Sylvain hin- und hergerissen gefühlt habe. Vielleicht empfinde ich ja Freundesliebe für Carter und romantische Liebe für Sylvain. Aber woran erkenne ich das?
»Du glaubst also, ich empfinde nur Freundschaft für Carter?«, fragte sie und sah ihre Freundin hoffnungsvoll an.
Rachel zögerte. »Ich weiß nicht«, sagte sie dann. »Das kann ich ja nicht wissen. Das kannst nur du wissen. Aber es ist gut möglich, dass du Carter liebst, ohne in ihn verliebt zu sein. Darüber solltest du vielleicht mal nachdenken – vor allem, solange er noch mit Jules zusammen ist.«
Bei der Erwähnung von Jules’ Namen zuckte Allie zusammen. Sie mochte die Vertrauensschülerin nicht besonders, aber ihr den Freund auszuspannen, wäre ihr nie in den Sinn gekommen.
»Und was soll ich jetzt tun?«, fragte sie matt. »Ich möchte das irgendwie in Ordnung bringen. Ich bin nicht so eine, die sich in andere Beziehungen einmischt. Und ich will Carter nicht schon wieder verlieren. Auf gar keinen Fall.«
»Na ja«, sagte Rachel und warf gähnend einen Blick auf Allies Wecker. Es ging auf fünf Uhr morgens zu. »Ich glaube, du musst mit ihm reden und die Sache aus dem Weg räumen. Und sag’s ihm so. Sag ihm, dass du nur mit ihm befreundet sein willst – jedenfalls solange er eine Freundin hat. Das lässt dir Zeit, herauszufinden, was du wirklich für ihn empfindest.«
»Aber woran soll ich das erkennen?«, fragte Allie fast schon flehentlich. »Woher weiß man, welche Art von Liebe es ist?«
»Tja. Das ist das Kniffelige dabei«, sagte Rachel grinsend, legte sich neben sie ins Bett und zog die Decke über beide.
Der Unterricht am nächsten Tag war eine Qual. Die Stunden schienen sich endlos hinzuziehen. Nach dem Albtraum hatte Allie nicht mehr richtig schlafen können, obwohl Rachel bei ihr geblieben war, und konnte nun kaum die Augen offen halten. Das monotone Geleiere der Vertretungslehrer tat ein Übriges.
In Englisch und Geschichte, den beiden Fächern, die sie gemeinsam hatten, verhielt sich Carter distanziert und sah sie nicht ein einziges Mal an.
Einmal begegnete
Weitere Kostenlose Bücher