Denn Wahrheit musst du suchen
von hier wegholen wollen. Und ein paar von ihnen werden nicht mitgehen. Es wird mächtig Ärger geben, und darum müsst ihr schleunigst zurückkommen. Und zwar sofort!«
»Was?«,
rief Raj aus. Er sah sie reihum an, als würde er von jedem Einzelnen eine Erklärung erwarten. »Wie konnte das denn passieren?«
Sylvain schaltete sich ein. »Ein Mitschüler hat uns informiert. Seine Eltern sind auf Nathaniels Seite und haben ihm gesagt, dass sie ihn noch diese Woche holen werden. Und das haben die anderen Schüler irgendwie … mitgekriegt.«
»So, so – mitgekriegt«, höhnte Raj und wandte sich einen Augenblick ab. In seinem Kiefer arbeitete es, und Allie gefiel sein Gesichtsausdruck gar nicht.
»Ihr habt doch gar keine Ahnung, was hier alles los ist«, sagte er dann mit frostiger Stimme. »Woher auch? Ihr seid sechzehn Jahre alt!« Er ließ seine Faust mit einer solchen Wucht auf das Pult neben sich sausen, dass der daraufliegende Papierstapel in die Luft flog und durcheinandergeriet. »Glaubt ihr im Ernst, wir würden euch alles erzählen?«
»Das solltet ihr aber«, sagte Allie leise. »Schließlich sind wir diejenigen, die dran glauben müssen, wenn ihr euch vertut.
Wieder
vertut.«
Rachel schnappte nach Luft – und Raj zuckte zusammen, als hätte sie ihn geschlagen.
»Allie.
Es reicht.
« Carter klang beinahe panisch.
Doch Sylvain sprang ihr bei. »Nein«, sagte er und stand auf. »Sie hat völlig recht. Ihr müsst zurückkommen, Raj.«
Die anderen begannen wild durcheinanderzureden, bis Raj beschwichtigend die Hände hob und sich an Allie wandte.
»Ich verstehe, warum du dich so aufregst. Und deine Argumente hab ich auch begriffen. Es ist angekommen bei mir – okay? Ich werde tun … was ich kann. Also«, sagte er dann, nun auch an die anderen gerichtet. »Und jetzt erzählt ihr mir alles. Und zwar von Anfang an.«
Als sie später den Biologiesaal verließen, hatte keiner mehr Gesprächsbedarf. Entschuldigungen murmelnd sahen alle zu, dass sie fortkamen. Statt neue Hoffnung zu bringen, hatte das Gespräch mit Raj die Sache nur noch schlimmer gemacht. Bitterkeit machte sich breit.
Nur Allie blieb zurück, in der Hoffnung, noch in Ruhe mit Rachel reden zu können. Doch die spazierte gleich darauf Arm in Arm mit ihrem Vater zur Tür hinaus und würdigte sie keines Blickes.
»Dann halt nicht«, flüsterte Allie und ließ die Schultern sinken.
Sie konnte förmlich hören, wie ihre Mutter in anklagendem Ton sagte: »Immer musst du so übertreiben, Alyson. Du weißt nie, wann es mal gut ist.«
Vielleicht hatte sie ja doch recht.
Allie vergrub den Kopf in den Händen, um die Stimme ihrer Mutter zum Schweigen zu bringen – und die Schuldgefühle und Schmerzen gleich mit.
»Es ist schwer, derjenige zu sein, der die Wahrheit sagt.«
Allie wirbelte herum. Auf der anderen Seite des leeren Saals lehnte Sylvain an der Wand und blickte sehr ernst drein.
»Bin ich das denn?«, fragte Allie und kämpfte gegen den Kloß in ihrem Hals an. »Oder bin ich hier nur das Arschloch? Genau so fühl ich mich nämlich.«
»Wer führen will, muss auch bereit sein, mal das Arschloch zu sein, wenn es nötig ist«, erwiderte er. »Und du hast uns heute angeführt.«
»Meinst du echt, ich hab’s richtig gemacht?«, fragte Allie. Sie klang wenig überzeugt.
»Wenn du dich wie ein verschüchtertes Kind benommen hättest, hätte Raj uns nie ernst genommen«, entgegnete Sylvain achselzuckend. »Du hast ihn gezwungen, uns zuzuhören. Und dadurch hast du anderen geholfen.«
Allies Brust schmerzte von all den ungeweinten Tränen. »Es ist nur so … Ich mag Raj. Und er wird mir bestimmt nie verzeihen, was ich da gesagt habe.«
Sylvain schüttelte den Kopf. »Raj hätte an deiner Stelle ganz genauso gehandelt. Er wird dich eher dafür respektieren, dass du es gesagt hast.«
Er sah sie fest an mit seinen klaren, blauen Augen. Auch wenn sie nicht ganz überzeugt war, dass er recht hatte, fühlte sie sich nach seinen ermutigenden Worten doch besser – zuversichtlicher.
»Wie machst du das?«, fragte Allie.
»Was denn?«
»Dass ich mich immer tapferer fühle, als ich bin.«
»Du bist einfach tapfer«, erwiderte er schlicht.
Ihr wurde ganz heiß.
Wenn sie wirklich so tapfer war, konnte sie ihm ja auch sagen, was ihr auf dem Herzen brannte.
Sie ging zu ihm hinüber und lehnte sich an das Pult vor ihm, direkt neben das Skelett. Ohne sich dessen bewusst zu werden, berührte sie die Plastikknochen der
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