Denn Wahrheit musst du suchen
du willst.«
Wie am Abend zuvor auf dem Gang legte er seine Hand auf ihre. Seine Körperwärme durchströmte sie. Sie wusste, wie es sich anfühlte, wenn seine Hände ihr Gesicht streichelten, ihre Haare. Wenn er sie an sich zog.
»Du musst dich mal entscheiden, Allie. Ich möchte nicht, dass du mich nimmst, nur weil Carter schon vergeben ist. Ich möchte, dass du dich für mich entscheidest, weil du mich willst.« Seine Augen loderten so blau, dass es fast schon wehtat. »Ich wollte immer nur der sein, den du willst. Aber allmählich glaub ich, dass ich das nie sein werde. Ich kann nicht ewig auf dich warten – das könnte niemand. Ich glaub, ich hab eh schon zu lange auf dich gewartet. Es tut einfach zu weh …«
Irgendwo am anderen Ende des Flurs schrie eine unbekannte Stimme: »Nachtruhe!«
Eine Sekunde blieben sie noch so da stehen, und Sylvain sah ihr tief in die Augen. Dann löste er sich von ihr und ließ ihre Hand los.
»Es ist spät«, sagte er mit leerer Stimme. »Lass uns lieber gehen.«
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Sechsundzwanzig
Als Allie am nächsten Tag in den Geschichtsunterricht kam, saß Zelazny seelenruhig an seinem Lehrerpult.
Allie blieb so abrupt stehen, dass der Schüler, der hinter ihr lief, ungebremst in sie hineinrasselte.
»’tschuldigung …«, sagte Allie, ohne den Blick vom Lehrer abzuwenden.
»Hinsetzen! Wenn’s geht, heute noch«, knurrte Zelazny griesgrämig wie immer, als wäre er nie fort gewesen. Als wäre er nicht einer von denen, die Eloise gefangen hielten.
Mit klopfendem Herzen versuchte Allie einzuschätzen, was hier gespielt wurde. Hatte Raj es geschafft? Hatte er alle Lehrer überredet, zurückzukommen?
Kurz darauf kam auch Carter so schwungvoll in den Klassenraum gerauscht, dass er fast über seine Füße gestolpert wäre, als er Zelazny bemerkte.
Und als Sylvain eintraf, riss auch er verwundert die Augen auf. An Allie gewandt, hob er die Brauen zu einer stummen Frage. Sie schüttelte unmerklich den Kopf: Auch sie hatte keine Erklärung für das plötzliche Auftauchen des Geschichtslehrers.
Das stumme Gespräch beruhigte sie etwas – wenigstens kommunizierte Sylvain noch mit ihr.
In der vergangenen Nacht hatte sie Stunden wach gelegen und darüber gegrübelt, was Sylvain gesagt hatte und wie schwach sie sich ihm gegenüber verhalten hatte. Es wäre die perfekte Gelegenheit gewesen, ihm zu sagen, dass sie ihn Carter vorzog, doch sie hatte es nicht fertiggebracht. Warum bloß? Okay, er hatte sie überrumpelt, aber … trotzdem. Was hielt sie zurück? Vertraute sie ihm immer noch nicht wegen der Geschichte damals beim Sommerball? Oder wegen Jo? Oder weswegen sonst?
Zelazny stand in Rührt-euch-Stellung neben seinem Pult und blickte die Klasse scharf an.
Allie zog ihren Notizblock aus der Tasche und versuchte, sich ganz normal zu verhalten. Was, wenn Zelazny wusste, dass sie in seinem Zimmer gewesen waren? Und, nicht auszudenken – wenn er wusste, dass sie ihn denunziert hatten?
Der Gedanke machte sie schaudern, und vor lauter Nervosität nahm sie mit zitternder Hand ihren Stift und ließ auf dem Papier krakelige Gitterstäbe und ein riesiges Vorhängeschloss entstehen.
Und was tat Zelazny? Er unterrichtete einfach. Machte einfach genau da, wo der Vertretungslehrer aufgehört hatte, weiter – mit der Schlacht von Austerlitz – ohne ein Wort der Erklärung oder der Entschuldigung für seine Abwesenheit.
Allie hatte darauf gewartet, dass das Beil fiele, dass Zelazny sie aufrief und bezichtigte, sie habe in seinem Nachttisch und in dem Karton unter seinem Bett herumgeschnüffelt; doch je mehr Zeit verging, desto sicherer war sie sich, dass nichts dergleichen passieren würde.
Erleichtert ließ sie sich in ihren Stuhl sinken, machte sich ab und zu Notizen und sehnte nur den Zeitpunkt herbei, an dem sie mit den anderen diese neuerliche Wendung besprechen konnte.
Dann aber wurde die Geschichtsstunde erstaunlich interessant. Gebannt lauschte Allie Zelaznys Ausführungen zu der Schlacht zwischen Napoleon und den drückend überlegenen Truppen der österreichisch-russischen Koalition.
»Napoleon war ein meisterhafter Stratege«, erläuterte Zelazny, während er auf der weißen Kunststofftafel die Schlachtordnung skizzierte. »Er wusste, dass er zahlenmäßig unterlegen war und der Feind mehr Truppen und Kanonen besaß. Also stellte er ihm eine Falle.«
Zelazny wischte einen Teil seiner Skizze aus und tippte mit der Fingerspitze auf die Tafel. »Absichtlich
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