Denn wer zuletzt stirbt
hatte ihn bis zu seinem Verschwinden gar nicht bemerkt.
Ich machte mich auf den Weg in die Klinik, zurück zu meinen Patienten, denen wir Asyl gaben, um sie, wenn möglich, vor dem Zugriff von Krankheit und eventuell gegen eine vorzeitige Abschiebung in den Tod zu schützen.
19
Ich gehe eigentlich nie zur Beerdigung meiner Patienten, als Leiter der Abteilung für chronisch Kranke und entsprechend alter Menschen wäre das schon rein zeitlich kaum zu bewältigen. Herr Winter war eine Ausnahme, schließlich waren wir beide Gründer der Stiftung, die seinen und den Namen meiner Tante trug und deren Präsident ich war.
Gemessen an seinem Alter und seinen Lebensumständen in den letzten Monaten fanden sich erstaunlich viele Leute zu Winters Beerdigung auf dem Waldfriedhof Zehlendorf ein. Alle Mitbewohner und Nachbarn seiner Wohnung an der Rehwiese, Mitarbeiter aus den verschiedenen Firmen und Ingenieurbüros, die ihm früher gehört hatten, und überraschend viele Mitpatienten aus meiner Abteilung, sofern gehfähig. Sogar Celine, die Winter nur aus meinen Erzählungen kennengelernt hatte, war erschienen. Wohl mehr als Zeichen mir gegenüber, daß unser Streit nun endgültig beigelegt wäre.
Von den wenigen mir bekannten Kontakten Winters fehlte nur seine Großnichte Simone. Aber Simone hatte den Beerdigungstermin für ihren Großonkel wahrscheinlich schon für die erste Januarwoche freigehalten und war als Managerin eines jungen Startups sicher knapp an Terminen. Außerdem hätte sie, wie ich später erfahren habe, für die Teilnahme an der Beerdigung Hafturlaub beantragen müssen.
Offensichtlich hatte sie sich mit den Akten, die bei meinem Besuch in ihrer Firma gerade in Umzugskisten verschwinden sollten, zu viel Zeit gelassen. Jedenfalls hatte sich neben der Börsenaufsicht inzwischen auch die Staatsanwaltschaft eingeschaltet. Unter dem Vorwurf des illegalen vorfristigen Verkaufs von Eigentümeraktien, Scheingeschäften mit dem Ziel der Kursmanipulation und des Insiderhandels war Simone Simons vor über einem Monat verhaftet worden. Und selbst wenn Frau Simons sich aus dieser Sache herauswinden könnte, bliebe ihr der Kampf gegen die Vereinigung der Kleinaktionäre, die sie gerade in einem Musterprozeß auf fünfzigtausend Euro Schadenersatz wegen einer bewußt falschen Gewinnprognose verklagte. Ich verkniff es mir, mich über den aktuellen Wert meiner ABS-Aktien zu informieren.
Winter hatte mich auf einem kleinen Zettel, den die Schwestern in seinem Nachttisch gefunden hatten, um ein paar Worte an seinem Grab gebeten. Ich konnte mir vorstellen, wie er beim Schreiben dieser Verfügung trotz Schmerzen und Luftnot schelmisch gelächelt hatte, wußte er doch, wie zuwider mir öffentliches Reden ist. Aber schließlich hatte ich in seinen Nachbarn von der Rehwiese ein solventes Publikum, also erzählte ich von unserer Stiftung und nutzte die dem Anlaß entsprechend weich gestimmten Herzen, um zu Spenden zugunsten der Stiftung im Andenken des Toten aufzurufen, und ließ gleich eine Spendenliste herumreichen.
Dann sprach ich noch kurz davon, daß Winter auf eine zweite Chance nach seinem Tod gehofft habe und daß ich wünsche, daß er sie bekäme, aber es auch in dem uns bekannten Leben immer eine zweite Chance gäbe, wenn wir sie nur ergriffen: eine Chance, uns bei jemandem zu entschuldigen, einen alten Streit beizulegen, einen alten Traum zu wagen. Dabei schaute ich zu Celine. Sie nickte mir kaum merklich zu.
Nach meiner ergreifenden Rede defilierten die Trauergäste am Grab vorbei, jeder warf, wie man das kennt, eine Handvoll Erde in die Grube.
»Mein herzlichstes Beileid.«
Ich verstand erst nicht. Schon der erste in der Reihe hatte mir die Hand gedrückt, gemeint vielleicht als Dank für meine kleine Ansprache. Aber das Beispiel machte Schule, und plötzlich stand ich quasi als Hinterbliebener an Winters Grab und bedankte mich artig für viele herzliche Beileidsbekundungen.
»Du hättest es ruhig sagen können.«
Celine stand schräg versetzt hinter mir und entging so den Beileidsbezeugungen.
»Was sagen können?«
»Daß er dein Freund war.«
Langsam bewegte sich die Trauergemeinde in Richtung Ausgang, zurück ins Leben. Bei Tante Hildes Beerdigung war ich mit dem dafür abgestellten Friedhofsgärtner allein gewesen, der mit einem überkonfessionellen Standardspruch die Urne in das vorbereitete Loch versenkt hatte. Selbst der Bestattungsunternehmer hatte unter einem Vorwand abgesagt.
»Das funktioniert
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