Denn wer zuletzt stirbt
gefunden hast, wann etwa hat Kiesgruber sein letztes Mexiletin bekommen?«
Michael stand auf und konsultierte eine spezielle Datei auf seinem Rechner.
»Wieviel habt ihr ihm gegeben?«
»Zweihundert Milligramm alle sechs Stunden, achthundert Milligramm am Tag.«
»Das ist ‚ne Menge, oder?«
»Oberer Bereich. Sollten jedenfalls mehr als 0,2 Nanogramm pro Milliliter im Blut ankommen.«
Michael hatte inzwischen die Werte gefunden.
»Wenn wir die mittlere Halbwertzeit zugrunde legen, hat dein Patient eine ganze Weile sein Mexiletin nicht bekommen.«
Endlich wurde klar, warum die Sektion keine unnatürliche Todesursache an den Tag gebracht hatte. Die Patienten starben weder an einem mysteriösen Gift noch einer massiven Überdosis, sondern weil man ihnen lebenswichtige Medikamente einfach nicht gab. Oder, wie bei Tante Hilde, sie unerreichbar machte. Ich nahm das Bier, das Michael mir angeboten hatte.
»Sag mal, Michael. Du hast vorhin die Gerichtsmedizin erwähnt, und daß dort die Proben lange aufgehoben werden. Woher weißt du das?«
»Das weiß ich, weil mein ausgezeichnetes Laboratorium gelegentlich für die Gerichtsmediziner arbeitet. Es gibt ein paar Sachen, die mit den Geräten dort nicht bestimmt werden können, die schicken sie zu mir.«
»Das heißt, du kennst dort jemanden?«
»Wenigstens die Leute im gerichtsmedizinischen Labor kenne ich ganz gut, klar. Das bedeutet aber noch lange nicht, daß wir dort einbrechen können und eine Leiche klauen, falls es das ist, was du im Sinn hast.«
Hatte ich nicht. Ich hatte Tante Hildes Blut im Sinn. Aus dem Gedächtnis schrieb ich die Medikamente auf, die ich Hilde für ihr Herz, gegen ihren Bluthochdruck und gegen ihre Angina pectoris verordnet hatte und gab Michael den Zettel. Er versprach, sich gleich morgen darum zu kümmern.
Auf der Heimfahrt drückte ich auf die Tube – mich plagte die Frage, ob meine Hausgenossin Trixi während der Entrümpelungsaktion bei ihrem ehemaligen Frauchen und meinem Besuch bei Michael dicht gehalten hatte. Hatte sie. Ich hingegen hatte vergessen, die Tür zu meinem Schlafzimmer ordentlich zu verschließen und fand Fräulein Trixi genußvoll in meine Bettdecke vergraben. Hieß das, daß ich als ihr neues Alpha-Tier akzeptiert war?
Mit einer Dose von dem Luxusfutter aus der Fernsehwerbung, das ich bei Tante Hilde gefunden hatte, lockte ich sie aus den Federn. Nach unserem Marsch um das Karree hielt ich meine Schlafzimmertür verschlossen. Auch als Alpha-Tier legte ich keinen Wert auf einen Hund in meinem Bett.
9
Michael hatte bei seinem Versprechen, sich »gleich morgen« um Tante Hildes Serum in der Gerichtsmedizin zu kümmern, vergessen, daß ein Wochenende vor der Tür stand. Ich würde mich in dieser Frage folglich noch gedulden müssen, genauso wie mit dem Papiermüll von der Hauspflege, versprochen ist versprochen, und Celine war noch bis Sonntag nachmittag in Frankfurt. Schon lange hatte ich sie nicht mehr so aufgekratzt wie vor dieser Demonstration erlebt. Fühlte ich mich nur ausgeschlossen von einem Teil ihres Lebens, oder machte ich mir zu Recht Gedanken über meine mehr als zehn Jahre jüngere Freundin in einem Zeltlager mit Gleichgesinnten und Gleichaltrigen? Mein Angebot, ihr ein Hotel in Frankfurt zu bezahlen, hatte sie empört abgelehnt.
»Manchmal kannst du wirklich unerhört spießig sein, Felix!«
Ein Wochenende ohne Celine und ohne das Studium des von uns beschlagnahmten Mülls hieß nicht, daß ich bis Sonntagabend von akuter Langeweile bedroht war: Unsere Verwaltungsleiterin Beate hatte mich inzwischen wiederholt auf den Rückstand meiner Station bezüglich unserer Leistungsstatistik hingewiesen, und der Samstag war so gut wie jeder andere Tag, diese Sache in Ordnung zu bringen.
Die Sache mit der Leistungsstatistik ist keine Gemeinheit von Beate, sondern eine Forderung der Krankenkassen und des Gesundheitsministeriums. Angefangen hatte es damit, daß gegenüber den Krankenkassen die Diagnosen der Patienten verschlüsselt werden mußten, nach dem »ICD 10«. ICD steht für »International Classification Diseases« und die Zahl zehn dafür, daß diese Klassifikation mittlerweile neunmal geändert worden ist und sicher irgendwo längst am ICD 11 gearbeitet wurde. Unter dem Schlagwort »Qualitätssicherung« waren als nächstes der »OPS« eingeführt worden, der »Operations- und Prozedurenschlüssel«, in dem jede Blutentnahme, jede Spritze, jeder Verbandswechsel mit der entsprechenden Codeziffer
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