Denn wer zuletzt stirbt
Weihnachtsgeschenk ist.«
Nachdem die Post entsorgt war, begann ich meine Entrümpelungsaktion. Ich fing mit der Küche an, das war einfach. Hilde hatte sie in den letzten Jahren kaum noch benutzt, und überhaupt nicht mehr, nachdem Sturz, Operation und fehlgeschlagene Rehabilitation sie vollkommen ans Bett gefesselt hatten.
Ordentlich aufgereiht begrüßten mich Geschirr, Töpfe und Pfannen, die ich geschlossen der Entrümpelungsfirma überließ. In der Speisekammer fand ich einen ansehnlichen Vorrat an Fertiggerichten, ein Bestand, der trotz fahrbarem Mittagstisch immer wieder von Ricarda aufgefüllt worden war, man könne ja nie wissen. Bei vielen war das Ablaufdatum noch lange nicht erreicht, trotzdem kamen sie zum Müll, gemeinsam mit der lange ungenutzten Reserve an Mehl, Zucker und den anderen Grundnahrungsmitteln. Irgendwie gibt es wohl eine Sperre, sich über geplante Essen eines Toten herzumachen. Wenigstens die Dosen mit dem Luxushundefutter aus der Fernsehwerbung packte ich für Trixi ein, als kleine Abwechslung vom Aldi-Billigfutter bei mir. Vielleicht würde sie es sich einmal verdienen.
Nach der Küche nahm ich mir das ehemalige Gästezimmer vor, das schon lange zur Abstellkammer mutiert war. Anfangs öffnete ich noch Schränke und Kartons und besah mir die materiellen Zeugen eines beendeten Lebens. Manche Dinge lösten Erinnerungen in mir aus, viele sagten mir nichts. In einem kleinen Handbuch hatte Hilde bis zu ihrem Sturz alle Ausgaben akribisch notiert, auch die kleinen Diebstähle von Ricarda. Ich überprüfte ein paar Seiten, die Addition war ohne Fehler, also stimmte es wohl. Oder hatte Hilde einfach alle Gedächtnislücken als »Diebstahl von Ricarda« aufgefüllt?
Länger verweilte ich bei einer holzgeschnitzten Kassette mit Fotos. Viele waren Fotos eines Mädchens, das ich nie kennengelernt hatte. Ich kannte nur Tante Hilde, die Erwachsene, die zu Geburtstag und Weihnachten mit ihren Geschenken erwartet wurde, und Tante Hilde, die alte Frau, die meiner Hilfe bedurfte und sie viel zu selten bekommen hatte. Wie viele Pläne mochte dieses Mädchen gehabt, von wieviel möglichen Leben geträumt haben? Gibt es parallele Universen, in denen wir unsere alternativen Leben leben? Ich brachte es nicht über das Herz, diese
Fotos zu sortieren, und stellte die Kassette zu den Dingen, die ich mitnehmen wollte. Wahrscheinlich würde ich sie nie wieder öffnen, und irgendwann würde jemand anderes sie unter meinem Nachlaß finden, sich vielleicht kurz wundern und die Kassette endgültig wegwerfen.
Nach gut drei Stunden stand mir noch weit mehr als die Hälfte der Wohnung bevor, außerdem deprimierte mich zunehmend, wie wenig Greifbares von einem langen Leben übrigblieb. Ich änderte mein Vorgehen und suchte nur noch gezielt nach Dingen, die ich als Erinnerung an Hilde beziehungsweise unsere Familie behalten wollte. Es war nicht viel, und zum Schluß sah ich auch keinen Sinn darin, den Schmuck der Großmutter oder die Orden meines Großvaters weiterhin aufzuheben. Aber vielleicht hätte Celine wenigstens Interesse an den Halsketten.
Das ehemalige Wohnzimmer, auf dessen vierundzwanzig Quadratmetern ihr Leben am Ende beschränkt gewesen war und in das ich erst neulich mit Celines Hilfe das verstellbare Krankenbett geschleppt hatte, stand als letzter Raum auf meinem Entrümpelungsplan. Hier hatte ich sie sterbend aufgefunden. Als Arzt mehr als vertraut mit dem Sterben, stellte sich doch ein Unterschied heraus zwischen dem Tod, den ich in der Klinik erlebte, und der Inventur eines vergangenen Lebens in seiner alltäglichen Umgebung.
Ich saß auf Tante Hildes inzwischen abgezogenem Bett. Das Telefon, das auf dem Nachttisch stand, müsse noch abgemeldet werden, dachte ich gerade, als es mir auffiel: Der Nachttisch stand gute eineinhalb Meter vom Bett entfernt. In dieser Position waren für Tante Hilde weder das Telefon noch ihre Medikamente auf dem Nachttisch erreichbar gewesen. Ich durchforstete meine Erinnerung – es hatte am Tag ihres Todes genug Gelegenheiten gegeben, den Nachttisch zu verschieben: die beiden Polizisten, die sich anfangs von Hildes Tod überzeugt hatten, der niedergelassene Kollege mit seiner gewissenhaften Leichenschau, die Beamten von der Kripo, die Sargträger, als sie Hilde eingebettet hatten. Aber es gibt Bilder, die sich stark in unser Gedächtnis einprägen, und ein solches Bild war der Morgen, als ich nach Celines Anruf hierher gerast war, um Hilde gerade noch bei ihrem
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