Department 19 – Die Mission
Mannes zeigten, der ihn herbeigerufen hatte: des Schauspielers Henry Irving.
Das attraktive, spitze Gesicht des großen Shakespeare-Darstellers war in ganz London bekannt, genau wie sein wohltönender Bariton. Der alte Mann hatte ihn vor zwei Spielzeiten in Othello gesehen und seine Darbietung als höchst zufriedenstellend in Erinnerung behalten.
»Professor Van Helsing?«
Der alte Mann schrak aus seinen Träumereien und musterte den beleibten, rotgesichtigen Kerl, der nun vor ihm stand. »Das ist richtig«, sagte er. »Und Sie sind Mr. Stoker, nehme ich an?«
»Jawohl, Sir«, antwortete der Mann. »Ich bin der Nachtmanager des Lyceums. Gehe ich recht in der Annahme, dass Mr. Irving bereits erklärt hat, warum er Ihr Kommen für erforderlich hält?«
»In seiner Nachricht stand, dass ein Revuemädchen verschwunden sei, dass er befürchte, es könne nicht alles mit rechten Dingen zugehen und dass ich möglicherweise über ein wenig Erfahrung mit den fraglichen Dingen verfüge.«
»Ganz recht, Sir«, sagte Stoker. »Aber es ist nicht irgendein Revuemädchen. Es ist …« Er brach ab.
Van Helsing nahm den Nachtmanager genauer in Augenschein. Das Gesicht des Mannes war tiefrot, die Augen wässrig und der Kopf eingehüllt in eine Wolke aus alkoholischen Dämpfen. Es war nicht zu übersehen: Stoker hatte den Mut für seine nächtliche Arbeit auf dem Boden einer Flasche gesucht.
»Mr. Stoker«, sagte Van Helsing in scharfem Ton. »Ich bin auf Bitten Ihres Auftraggebers von Kensington hierhergereist, und ich möchte mich um die Angelegenheit kümmern, bevor die Sonne allzu lange hinter dem Horizont verschwunden ist. Sagen Sie mir, was ich noch nicht weiß.«
Stoker sah ihn betroffen an. »Ich bitte um Entschuldigung, Sir«, sagte er hastig. »Verstehen Sie, das verschwundene Mädchen, eine Revuetänzerin namens Jenny Pembry, ist eine Favoritin von Premierminister Gladstone persönlich, der so freundlich war, uns allein dieses Jahr nicht weniger als viermal zu besuchen. Ihr Fehlen wurde vom Premierminister bemerkt, nachdem er vor zwei Tagen unsere Inszenierung von Der Sturm besucht hatte, und Mr. Irving musste ihm versprechen herauszufinden, was aus ihr geworden ist. Als er dem Premierminister gegenüber schließlich einräumen musste, dass er dazu außerstande war, wurde ihm mitgeteilt, dass ein Telegramm an den berühmten Professor Van Helsing aus Kensington sich möglicherweise als nützlich erweisen könnte.«
»Und jetzt sind wir hier«, dröhnte Van Helsing, indem er sich zu seiner vollen Größe aufrichtete. Seine Stimme klang plötzlich laut und drohend. »Mitten in einem leeren Theater und ohne jeden Grund zu der Annahme, dass diese verschwundene Person etwas Mysteriöseres getan hat, als der Bühne überdrüssig zu werden und sich eine gediegenere Arbeit zu suchen. Ganz gewiss jedenfalls nichts, was zu dem Schluss führen könnte, diese Affäre hätte meine Aufmerksamkeit verdient. Ich vermag nicht zu sehen, was ich Ihrer Meinung nach hier tun sollte, Mr. Stoker.«
Der Nachtmanager war einen Schritt zurückgewichen. Er zog ein Taschentuch hervor und betupfte sich damit aufgeregt die Stirn. »Sir, wenn Sie die Zeit erübrigen könnten, sich die Umkleideräume anzusehen«, sagte er mit bebender Stimme. »Mr. Irving hat mich wissen lassen, dass der Premierminister höchst aufgebracht ist angesichts dieses Vorgangs, und ich möchte nicht vor ihn treten, ohne zuvor sämtlichen möglichen Spuren nachgegangen zu sein. Zehn Minuten, Sir, ich flehe Sie an.«
Van Helsing musterte den kleinen rotgesichtigen Mann. Er spürte, wie sein Ärger verrauchte und einer tiefen Frustration wich. Neun Monate waren vergangen, seit er und seine Freunde aus den transsylvanischen Bergen zurückgekehrt waren, und obwohl keiner von ihnen öffentlich über die Ereignisse dort gesprochen hatte, waren Gerüchte aufgetaucht – Gerüchte über das, was im Schloss Dracula geschehen war. Seither war er mit allen möglichen Hilfegesuchen überschüttet worden, angefangen bei knarrenden Dielenbrettern bis hin zu geisterhaften Erscheinungen. Und jetzt bat man ihn, wie es den Anschein hatte, auch noch um Hilfe bei der Suche nach verschwundenen Revuemädchen.
Er sehnte sich nach der Stille seines Laboratoriums, wo er seine Untersuchungen dessen, was er im Osten gesehen hatte, fortsetzen konnte. Außerdem hatte es beunruhigende Nachrichten aus dem Baltikum gegeben, Geschichten voller Blut und Schatten. Glücklicherweise deutete bisher
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