Department 19 – Die Mission
Harris sah aus, als wollte er etwas sagen, doch nach einem schnellen Blick zu Frankenstein schien er sich eines Besseren zu besinnen. Er seufzte umständlich, öffnete seine Bürotür weit und bedeutete Jamie einzutreten.
Das Büro war klein und sah aus, als wäre es komplett aus der Geschichtsfakultät einer Universität hierher verpflanzt worden. Jede verfügbare Fläche war mit Büchern, Zeitschriften und handgeschriebenen Manuskripten bedeckt. In einer Ecke stand ein ramponierter Schreibtisch aus Holz, halb versteckt unter wackligen Büchertürmen und Stapeln von Ordnern. Ganz zuoberst lag Eine neue Geschichte der Hexenprozesse von Salem , darunter Werke über das Mittelalter, die Renaissance, den Ersten Weltkrieg und Dutzende weiterer Themen.
»Nichts anfassen!«, warnte ihn der Professor. »Folge mir einfach.«
Er bahnte sich vorsichtig einen Weg zwischen Stapeln von Büchern und Papieren hindurch auf die andere Seite seines Büros, öffnete eine Tür, die Jamie bis zu diesem Moment gar nicht gesehen hatte, und winkte ihn zu sich. Jamie folgte dem Weg, den der Professor eingeschlagen hatte, und bemühte sich nur mäßig, die Bücher- und Manuskriptstapel nicht zu berühren – in der heimlichen Vorfreude auf die Reaktion des Professors, falls er doch etwas umstieße. Dann trat er durch die Tür.
Dahinter lag ein kleiner Unterrichtsraum. Drei Reihen von Stühlen aus Metall und Plastik standen vor einer weißen Leinwand und einem hellen Lesepult. Ein Projektor hing von der Decke, und auf einem niedrigen Regal auf der Rückseite des Raums lagen ordentliche Stapel von Schulheften sowie Stifte und Füller. Professor Harris ging nach vorn und nahm eine Fernbedienung vom Katheder.
»Nimm dir Papier und Stift und setz dich«, befahl er. Jamie tat, was von ihm verlangt wurde, während Harris zur Tür ging und das Licht ausschaltete. Dann richtete der Professor die Fernbedienung auf den Projektor und betätigte eine Taste. »Sieh hin, konzentrier dich und versuch es zu verstehen«, sagte er, dann verließ er den Raum und knallte die Tür hinter sich zu. Die Leinwand wurde hell, und Jamie setzte sich in einen der Plastikstühle.
Eine Stunde später wurde die Leinwand wieder weiß, und Jamie lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so aufgeregt gewesen zu sein; sein Magen fühlte sich an wie nach einer Achterbahnfahrt, seine Arme und Beine kribbelten, und sein Herz schien doppelt so schnell wie sonst in seiner Brust zu schlagen.
Der erste Film, den Jamie angesehen hatte, trug den Titel Gründung und Geschichte des Department 19 . Schon der Titel klang nach einer jener langweiligen Dokumentationen auf Channel 4, die seine Mutter ihn als kleinen Jungen sonntagabends hatte ansehen lassen. Und das Ganze wurde noch verschlimmert durch die Tatsache, dass die Stimme des Erzählers im Hintergrund eindeutig die von Professor Harris war. Als der Professor dann auch noch den Film damit begann, über Dracula zu sprechen, waren Jamies Gedanken abgeschweift.
Die Vorstellung von Dracula war in seinem Bewusstsein einfach zu sehr mit Christopher Lee und Smokings und rot gesäumten Umhängen verknüpft, und während Professor Harris die bekannte Geschichte erzählte, nahm Jamie sich eines der Hefte und fing an darin zu malen. Doch als der Schauplatz der Geschichte zurück nach London wechselte und Harris von etwas erzählte, das er den »Lyceum-Vorfall« nannte, hob Jamie den Blick – und erstarrte.
Auf der Leinwand war eine sepiafarbene Fotografie aus der Zeit der vorletzten Jahrhundertwende zu sehen, und Jamie erkannte den Mann darauf sofort, obwohl er noch nie zuvor ein Bild von ihm zu Gesicht bekommen hatte. Als die Stimme des Professors bestätigte, dass es sich dabei um Henry Carpenter handelte, Jamies Urgroßvater, war das Heft vergessen, und die Leinwand hatte seine ungeteilte Aufmerksamkeit.
Die nächsten zwanzig Minuten lauschte er gespannt, und als der Abspann über die Leinwand lief, war ihm unmissverständlich klar geworden, warum Admiral Seward mit solch unverhohlenem Stolz über Schwarzlicht sprach. Jamie war zutiefst beeindruckt von dem, was die Männer und Frauen der Organisation im Verlauf der letzten hundert Jahre bewirkt hatten, von ihrer Tapferkeit, ihrem Erfindungsreichtum und dem Mut, mit dem sie sich dem Entsetzen und dem Grauen gestellt hatten.
Er hatte atemlos gelauscht, während Professor Harris die Mission von Quincey Harker in der Ortschaft Passchendaele
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