Department 19 – Die Mission
hob Jamie den Kopf und zwang sich einmal mehr auf die zitternden Beine. Vor ihm stand ein Mann in einem grauen Trainingsanzug. Er war beinahe genauso breit wie groß und spähte aus kleinen Augen, die in einem Kopf von der Größe und Form einer Bowlingkugel saßen, auf Jamie herab. Unter den Armen des Mannes sammelten sich Halbmonde von Schweiß, doch er atmete mühelos und betrachtete Jamie mit demselben verspielten Blick wie ein Löwe ein verwundetes Beutetier.
Der Mann sprang vor. Im Bruchteil einer Sekunde überwand er die Distanz zwischen sich und Jamie. Der hatte den Sprung erwartet, doch er war müde, so müde, und konnte nichts weiter tun, als in einem erschöpften Versuch der Selbstverteidigung die Arme hochzureißen. Die Fäuste des Mannes krachten auf seine Unterarme, und ein stechender Schmerz schoss durch seine oberen Extremitäten. Dann streckte der Angreifer die mächtigen, narbigen Hände aus, drehte Jamies Kopf scharf nach links und griff nach seiner Kehle.
Einen Zentimeter vor der blanken Haut seiner Beute hielt er inne. Jamie starrte mit leerem Blick hinauf zur Decke des riesigen runden Raums, in dem er die letzten achtzehn Stunden verbracht hatte. Er merkte, wie der Mann im Trainingsanzug seinen Angriff abbrach, einen Schritt zurücktrat und abwartend schwieg, doch all das schien sich in weiter Entfernung abzuspielen.
Eine Hand schoss hervor, schnell wie eine Schlange, und klatschte in Jamies Gesicht. Er zuckte zusammen und hielt sich die Wange, über die sich rasch ein dumpfer heißer Schmerz ausbreitete.
»Wirst du mir jetzt zuhören?«, fragte der Mann.
Jamie starrte ihn hasserfüllt an und bejahte die Frage.
»Sehr schön. Sei froh, dass du überhaupt noch in der Lage dazu bist. Wäre ich ein Vampir gewesen, wärst du nämlich tot.« Der Mann seufzte. »Nimm dir kurz Zeit, und dann komm frühstücken«, sagte er und ging zu einer der Türen in der runden Wand. Dort angekommen drehte er sich noch einmal um. »Du musst dich mehr konzentrieren«, sagte er. »Denk an deine Mutter.«
Frankenstein hatte ihn vom Quartier des Admirals geradewegs zu einem der unauffälligen Aufzüge gebracht. Der Riese hatte geschwiegen, doch Jamie hatte nicht das Gefühl gehabt, als wäre er wütend auf ihn, nicht wirklich jedenfalls. Selbst nachdem Jamie sich auf den Admiral gestürzt hatte, war Frankenstein auf seiner Seite gewesen und hatte gedroht, Department 19 den Rücken zu kehren, sollte Seward sich weigern, eine Suche nach Jamies Mum zu gestatten. Jamie war sicher, dass viel mehr hinter dieser Drohung steckte, als Frankenstein gezeigt hatte. Sewards Stolz auf diese Einrichtung, ihre Errungenschaften und ihre Geschichte waren deutlich zu sehen, doch Jamie vermutete, dass unter der graugrünen Fassade des Monsters genau die gleichen heißen Gefühle brannten. Er war froh, dass der Admiral sich nicht hatte hinreißen lassen, Frankenstein auf die Probe zu stellen; er wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass sein Beschützer seine Drohung in die Tat umsetzte.
Sie waren hinuntergefahren zur Ebene G und durch eine Reihe von Korridoren gewandert, bis sie zu einem Büro hinter einer Glastür gekommen waren. Auf der Tür stand in großen schwarzen Buchstaben PROFESSOR A. E. HARRIS, und Frankenstein hatte laut angeklopft. Ein Mann Ende vierzig hatte ihnen geöffnet. Er hatte sein bereits ergrauendes Haar in silbernen Strähnen nach hinten gekämmt und trug einen ungeheuren grau-schwarzen Schnurrbart über einem dunklen Anzug mit blauem Hemd und limonengelber Krawatte. Der Mann sah aus wie der exzentrische Vizepräsident einer Maklergesellschaft.
Er nickte Frankenstein vertraut zu, bevor er Jamie mit einem Ausdruck milder Geringschätzung von oben bis unten musterte. Jamie, dessen Temperament nach all den Dingen, die der Admiral über seinen Vater gesagt hatte, noch nicht wieder völlig abgekühlt war, stand schon im Begriff, auch den Professor herauszufordern, als Frankenstein ihm zuvorkam.
»Admiral Seward …«
»… hat mich soeben informiert«, unterbrach ihn Professor Harris. »Er sagt, ich soll dafür sorgen, dass der Junge hier ein vierundzwanzigstündiges Training bekommt. Ich habe ihm geantwortet, was ich Ihnen jetzt antworte: Ich vermag nicht zu sehen, was man von mir in so kurzer Zeit erwartet.«
»So viel Sie können«, erwiderte Frankenstein scharf, und der Professor zuckte unmerklich zusammen.
Er hat Angst vor ihm. Gut. Wollen doch sehen, ob du mich noch mal Junge nennst.
Professor
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