Depeche Mode
anderem anatomischen Gedöns. Steht auf, als wär nichts gewesen, klopft die Hosen ab, trocknet die schweißigen Hände am Pullover, damit ihm der Schnaps, Vorsicht, nicht aus der Hand rutscht, und geht die Zivilisation suchen, aber was für eine Zivilisation denn, wenn man aus einem Eisenbahnwaggon gefallen ist, ja, man sucht sich seinen Weg an Fabrikzäunen entlang, vorbei am ehemaligen Stolz der Verteidigungsindustrie, nur die Erde schmatzt unter den Sohlen – zäh und klebrig wie angekauter Stimorol. Plötzlich aber stößt Wasja auf Straßenbahnschienen, schon besser, denkt er, wenn ich jetzt noch wüßte, welches meine Richtung ist, er setzt sich auf die Schienen und holt eine Flasche raus. Trinkt und will die Flasche wegstecken, entschließt sich dann aber, nicht zu hetzen, wohin hetzen, denkt er, bis morgen früh halte ich durch, dann werde ich weitersehen, er trinkt und macht sich nicht allzu viele Gedanken über diese Nacht und sein ganzes vermurkstes Business. Im Prinzip alles okay, alles okay, nichts passiert, er hätte ja auch umgebracht werden können oder an der Waggonplattform aufgehängt, oder im Ofen gebraten, verdammte Tungusen, Wasja setzt schmatzend die Flasche an, ja, denkt er, gut, daß ich viel Wodka habe, sogar mehr als ich trinken kann. Gut, daß es mehr ist, denn wo sollte ich hier jetzt welchen herkriegen. Obwohl, im Notfall könnte ich zum Bahnhof fahren und den Huzulen welchen abkaufen, denkt er und sitzt da – in zerrissenen Jeans, die ohne den Gürtel rutschen, im dunklen Pullover und abgestoßenen Turnschuhen, auf den nassen Schienen, auf denen manchmal gleißende Mondstrahlen aufblitzen.
Um ein Uhr nachts wäre Wasja fast von einer Straßenbahn überfahren worden. Der Fahrer sieht im letzten Moment, daß da was auf den Schienen ist, ein Hund, denkt der Fahrer und beschließt, ihn zu überfahren, aber er bemerkt gerade noch, daß nein – kein Hund, was für ein Hund denn, Hunde schlucken keinen Wodka direkt aus der Flasche, er kann gerade noch bremsen, steigt aus der Straßenbahn und findet den betrunkenen Wasja auf den Schienen. Spinnst du? schreit er, fuck, fast hätte ich dich in zwei Hälften geteilt. Entschuldige, sagt Wasja, ich hab meinen Zug verpaßt, hier, trink, der Fahrer greift zu, gut, denkt er bei sich, ein Kleiner auf den Schrecken, und setzt sich neben Wasja. So sitzen sie zusammen auf den Schienen, unterhalten sich nicht einmal, sitzen und schweigen, stören einander nicht – die Schienen sind breit, genug Platz für alle, es beginnt zu tröpfeln, na gut, sagt schließlich der Fahrer, los, ich kann dich bis zum Depot mitnehmen, von dort kommst du irgendwie weiter, danke, sagt Wasja, aber ein Ticket mußt du kaufen, auf dieser Linie gibt es Kontrolleure, was für Kontrolleure? wundert sich Wasja – es ist doch mitten in der Nacht, aha, der Fahrer ist beleidigt, fährst wohl sonst immer schwarz, na gut, ich muß, und sie klettern in die kalte Straßenbahn und fahren ins Depot, unterwegs steigt wirklich eine Kontrolleurin ein, geht zu Wasja, der will bezahlen, greift in die Tasche, findet dort aber nur ein dickes Paket russische Rubel, die er den Huzulen abgehandelt hat, sonst nichts, hier, sagt er zur Kontrolleurin, nehmen Sie. Was ist das? – fragt die, Geld, – sagt Wasja, was für Geld? schmutziges Geld, – sagt Wasja, – schmutziges. Nehmen Sie bitte. Aber da sagt die Kontrolleurin: für den Arsch – solches Geld kann ich nicht brauchen, bezahl mit unserem. Und wo soll ich das hernehmen? – gibt Wasja müde zurück. Woher du willst, – sagt die Kontrolleurin hart. Ich hab meinen Zug verpaßt, – sagt Wasja, aber die Kontrolleurin reagiert nicht. Ich kann Ihnen Wodka anbieten. Nein, – die Kontrolleurin lehnt ab, – will ich nicht. Ja wo gibt's denn so was? – wundert sich Wasja.
»Keine Chance, – denkt er – Kann weder ein Ticket kaufen, noch die Strafe bezahlen, so ein Scheiß.« Er steigt aus der Straßenbahn, setzt sich auf die Schienen und holt die zweite Flasche raus. Die nassen, glänzenden Schienen ziehen sich gleichmäßig in beide Richtungen der Unendlichkeit, und das ist es, was ihn schließlich mit der Realität versöhnt.
Prolog Nr. 4
22.00
Wenn ich erwachsen und vierundsechzig bin, werde ich mich unbedingt an dieses quälende Gefühl erinnern, und sei es nur, um herauszufinden, ob auch ich mich in so ein träges Vieh verwandelt habe, das nichts anderes kann als mit seinem Nickelkiefer die für den langen Polarwinter
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